ORF.at: Guten Tag, Herr Marelli. Zuletzt inszenierten Sie „Turandot" am Haus am Ring, jetzt erarbeiten Sie mit „Pelleas et Melisande" ihre zwölfte Regiearbeit für die Staatsoper. Mal ganz allgemein gefragt: Wie gehen Sie eine Neuinszenierung an?
Marco Arturo Marelli: Ich kenne die meisten Stücke, die ich inszeniere, bereits. Aber im Allgemeinen habe ich immer einen emotionalen und einen intellektuellen Zugang. Ich gehe sehr emotional an ein Stück ran, frage nach, höre in mich hinein, lese Literatur. Dann, wenn sich die Konzeption langsam entwickelt, hinterfrage ich intellektuell. Das heißt, ich frage mich, wie ich das darstellen kann.
Marelli: Wenn es die Musik bereits gibt, ja. Das ist bei gut 90 Prozent aller Angebote so. Natürlich habe ich auch viele Uraufführungen gemacht, da gab es die Musik ja noch gar nicht. „Pelleas" allerdings ist ein Stück, das ich schon kannte.
Marelli: Um an der Wiener Staatsoper zu inszenieren, ist es sehr klug, dass man bereits Erfahrung mit dem Werk hat. Ich habe die Konzeption von damals weiterentwickelt, verändert und mir dabei angesehen, was mir damals nicht gelungen ist. Schauen Sie, man kennt ein Stück erst richtig, wenn man es gemacht hat. Dass ich „Pelleas" schon mal inszeniert habe, ist ein großer Vorteil. Dabei ist es keine Kopie, ich sehe das Stück immer neu.
Marelli: Ja, besonders bei „Pelleas" ist man sehr auf die Besetzung angewiesen. In nahezu keinem anderen Stück ist es so, dass sich das Werk mit der Besetzung so drastisch verändert. Eine junge Melisande, ein junger Pelleas wirken ganz anders. Das hab ich erlebt, indem ich das Stück in Wiederaufnahmen mit anderen Sängern gesehen habe. Menschen sind so verschieden. Und man muss jedes Mal neu versuchen, die Gedanken, die man in diese Figuren einpflanzt, langsam wachsen zu lassen. Dann muss man den Sängern helfen, diese Figuren zu gebären.
Marelli: Also ehrlich gesagt, weiß ich auf der Hauptprobe nie, wohin ich gucken soll. Das ist natürlich immer eine Belastung. Aber ich habe ja sehr viel gemacht hier. Ich kenne die Leute sehr gut und weiß, dass ich mich auf sie verlassen kann. Auch das Haus liebt das sehr. Schließlich gibt es nicht über ein Problem drei Meinungen. Zum Beispiel die Situation, dass der Bühnenbilder sagt, etwas muss heller sein, der Lichtdesigner es dunkler haben möchte und der Regisseur sich Schatten wünscht. Man muss natürlich sehr gut vorbereitet sein und ganz genau wissen, was man will.
Marelli: Das geht zusammen. Ich kann nicht das Bühnenbild fertig machen, ohne zu wissen, wie ich darin inszeniere. Meistens ist es so, dass ich das Licht bereits beim Entwurf des Bühnenbildes mitdenke. Dann, bevor ich das Konzept ausarbeite, gehe ich als Regisseur durch das Stück, stelle mir die Szenen vor, überlege mir, wo die Probleme sind und welche Lösungen sich anbieten würden. Wenn ich das fertige Modell habe, stelle ich meistens in mir schon die Grundzüge der Gänge und schreibe sie mir auf. Das Modell fotografiere ich zudem immer mit Beleuchtung, dann weiß ich schon, woher das Licht wie kommen muss. Dabei schreibe mir sogar die Farbe des Lichtes auf.
Marelli: Das Stück ist immer als handlungsarm verschrien, als nicht verständlich, weil es so viel Symbolismus darin gibt. Die Herausforderung für mich lag dann zunächst darin, die Geschichte so klar und real wie möglich zu erzählen. Der Subtext, der muss sich entwickeln. Zuerst muss klar sein, was passiert. Der Subtext liegt auch in der Musik - es liegt vom ersten Ton an eine unergründliche Spannung in dem Stück.
Marelli: Mit dem Bühnenbild möchte ich das Eingeschlossen-Sein thematisieren. Es gibt kein Entrinnen mehr. Die Familienverhältnisse sind so belastend, dass es sich langsam zu einer Katastrophe entwickelt. Das Stück hat etwas Unerbittliches. Alle sind auf der Suche nach dem Schlüssel des Lebens, wie man glücklich ist - das bleibt ihnen verwehrt.
Marelli: Sie ist eine Projektionsfigur der Männer. Man weiß nicht, woher sie kommt, und muss sie als einen Menschen akzeptieren, von dem man nicht alles weiß. Ich finde, sie ist nicht naiv, sondern sehr poetisch.
ORF.at: Und belastet.
Sie ist zutiefst geschädigt, schon im ersten Bild, wenn Golaud sie fragt: „Wer hat Ihnen etwas Schlechtes angetan" und sie antwortet: „tous, tous" - alle. Golaud schließlich ist es dann, der sie nach Hause schleppt, in dieses Mausoleum. Er hat keinerlei Sensibilität für diese Frau.
Marelli: Ja, was der eine nicht hat, hat der andere. Pelleas hat eine große Poesie inne. Von Golaud wendet sie sich ab. Sie will ihn verlassen, schließlich ist er es ja, der sie malträtiert, dessen Eifersucht ganz furchtbar, extrem grauenhaft ist. Melisande ist eigentlich eine Projektionsfigur. Sie reagiert nur auf die Erfahrungen.
Marelli: Diese Oper ist ganz klar einer meiner Favoriten. Ich empfinde sie deshalb als so großartig, weil sie nie pathetisch ist. Debussy hat nie etwas wiederholt, nur weil die Musik das so haben will. „Pelleas et Melisande" will nur intensiv sein, hat nie falsche Töne drin und ist dabei eine der ganz seltenen Opern, wo Text und Musik sich völlig ergänzen. Literarisch ist „Pelleas et Melisande" ein gutes Stück und musikalisch einfach ein Wunderwerk.
Das Gespräch führte Elisabeth Stuppnig für ORF.at
Publiziert am17.06.2017