Mehrere Sängerinnen und eine Tänzerin werfen dem Opernstar Plácido Domingo vor, sie sexuell belästigt zu haben. Domingo selbst sagte, er sei immer davon ausgegangen, dass seine Beziehungen einvernehmlich gewesen seien. Einige Opernhäuser sagten nun Konzerte mit dem Tenor ab, andere wie die Hamburger Elbphilharmonie oder die Salzburger Festspiele halten an ihm fest.
Von Elisa von Hof
SPIEGEL ONLINE: Frau Hoffmann, trotz Belästigungsvorwürfen hat das Publikum Plácido Domingo am vergangenen Wochenende in Salzburg gefeiert. Ist die Kunst so klar von den Vorwürfen trennbar?
Hoffmann: Ich finde es bedauerlich, dass das Opernpublikum Domingo sogar stärker beklatscht, um ihm zu zeigen: Wir stehen auf deiner Seite, nicht auf der der Frauen. Das ist ein sehr schlechtes Zeichen - übrigens nur in Europa, das US-amerikanische Publikum verhält sich anders. An den Reaktionen in Österreich, Deutschland und Ungarn zeigt sich das jahrhundertealte Muster der Schuldumkehr, würde ich sagen: Die mutmaßlich missbrauchte Frau wird nicht gehört oder sogar bestraft, der Mann kommt davon oder wird nach seiner Tat sogar bejubelt.
SPIEGEL ONLINE: Europäische Konzerthäuser haben an Domingo festgehalten, während die Oper in San Francisco und das Philadelphia Orchestra Konzerte absagten. Warum sind die Reaktionen so unterschiedlich?
Hoffmann: Auch wenn man es in den Zeiten von Donald Trump nicht glauben mag - in den USA hat politische Korrektheit eine lange Tradition. Seit den Siebzigern, auch wegen der Frauenbewegung, herrscht dort eine größere Sensibilität. Schon die Äußerung eines Verdachts genügt für durchgreifende Maßnahmen. Wir in Europa agieren eher nach der Unschuldsvermutung. Das ist eigentlich nicht schlecht, bloß schwingt dabei Misstrauen gegenüber mutmaßlichen Opfern mit. Dabei ist die Schwelle, jemanden eines Übergriffs zu beschuldigen, sehr hoch.
SPIEGEL ONLINE: Mit Daniele Gatti, James Levine und nun eben Domingo stehen in diesem Jahr auch die Maestros der großen Opern im Fokus von #MeToo. Hat die Klassikindustrie ein Problem mit strukturellem Machtmissbrauch?
Hoffmann: Ja, so wie jeder Bereich unserer Gesellschaft. Ob es hier mehr Machtmissbrauch gibt, kann ich nicht sagen. Denn die Dunkelziffer ist riesig und es gibt leider keine belastbaren Untersuchungen.
SPIEGEL ONLINE: Sind künstlerische Institutionen, die häufig stark hierarchisch organisiert sind und gleichzeitig Kult um ein männliches Genie ermöglichen, besonders anfällig für Machtmissbrauch?
Hoffmann: Das stimmt sicherlich. Ich kenne die genannten Herren nicht persönlich. Aber es gibt im Musikbetrieb die Figur des selbstverliebten Mannes, der bewundert und begehrt sein möchte. Und zu diesem Selbstbild passt es, diese Position auszunutzen - auch, weil das Publikum ihm immer wieder die eigene Genialität bestätigt und weil es sexuelle Übergriffe offenbar immer noch als eine Art Kavaliersdelikt betrachtet.
SPIEGEL ONLINE: Sind also auch die Fans schuld an der gestörten Außen- und Selbstwahrnehmung eines berühmten Mannes?
Hoffmann: Er wird zumindest so gefeiert, dass ihm eventuell abhandenkommt, was sein Gegenüber will. Es gibt zum Maestro auch kein weibliches Pendant, am ehesten vielleicht noch die Figur der Diva. Aber der Maestro steht in der Hierarchie oben, er kann Besetzungen beeinflussen, Empfehlungen und Warnungen aussprechen, fördern oder fallenlassen. Er hat Macht.
SPIEGEL ONLINE: Levine, der sich wegen sexuellen Missbrauchs und Belästigung verantworten musste, hat seinen ehemaligen Arbeitgeber, die MET, verklagt. Seine Begründung: Unangemessenes Verhalten sei in seinem Arbeitsvertrag nicht als Kündigungsgrund aufgeführt.
Hoffmann: Ich empfehle Musikhochschulen und Institutionen genau deshalb, eine entsprechende Klausel in Arbeitsverträge aufzunehmen. Dann ist es leichter, gegen Übergriffe vorzugehen. Domingo sagt zu seiner Entlastung auch, dass sich die gesellschaftlichen Normen in den vergangenen Jahrzehnten geändert hätten. Da muss ich ihn korrigieren: Seit den Siebzigern engagiert sich die Frauenbewegung gegen Sexismus. Da frage ich mich schon, wo er sich bisher aufgehalten hat.
SPIEGEL ONLINE: Was kann man gegen Machtmissbrauch tun?
Hoffmann: Das ist das Problem: Gegen informelle Machtstrukturen kann man wenig unternehmen. Wer Beziehungen hat, ist immer im Vorteil. Aber an den systemischen Ursachen kann man arbeiten. Die Musik selbst kann so eine systemische Ursache sein.
SPIEGEL ONLINE: Wie das?
Hoffmann: Musik erotisiert, sie schafft Aufgeregtheiten, lässt Hormone toben. Dazu transportiert sie häufig Rollenbilder, die bei Menschen, die sich damit nicht kritisch auseinandersetzen, falsche Vorstellungen von Geschlechteridentitäten hervorrufen. Frauenfiguren in Opern und Vokalmusik sind ausgesprochen problematisch - darüber wird allerdings viel zu wenig gesprochen, auch in der Ausbildung. Und viele Regisseure setzen immer noch auf zugespitzte Geschlechterrollen statt auf komplexe.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Hoffmann: Ich denke an die dauernde Wiederbelebung eines Frauenbildes aus dem 18. und 19. Jahrhundert in Opern und Liedtexten: schwach, passiv, hilflos, allenfalls hinterhältig und gewalttätig. Oder schauen Sie sich den Entstehungsmythos der Musik an: Nach der Sage Ovids verfolgt der teufelsähnliche Hirtengott Pan die Nymphe Syrinx, um sie zu vergewaltigen. Daraufhin ruft sie die Götter um Hilfe, die sie in Schilf verwandeln. Das schneidet Pan ab und entwickelt daraus die Panflöte, mit der die Klage der verfolgten Nymphe immer wieder hörbar gemacht wird. In manchen Versionen der Sage heißt es abschließend: So kam die Musik unter die Menschen. Vielleicht sollten wir uns mal fragen, warum wir einen Entstehungsmythos pflegen, der auf einer versuchten Vergewaltigung fußt.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch haben Sie von Übergriffen im Musikunterricht und an Hochschulen berichtet. Damals war es für Sie nicht einfach, einen Fachverlag für das Buch zu finden.
Hoffmann: Interessant war, dass ich in Fachkreisen überhaupt keine Rückmeldung zu dem Buch bekommen habe. Niemand hat mich darauf angesprochen, niemand hat dazu geschrieben. Aber dafür habe ich reichlich Rückmeldungen von weiteren Opfern bekommen, damit hätte ich ein zweites Buch füllen können. Dieses Missverhältnis gäbe es heute dank #MeToo nicht.
SPIEGEL ONLINE: Oder müsste das Publikum vielmehr zeigen: Wir boykottieren Kunst, der ein ungeklärter #MeToo-Verdacht anhängt?
Hoffmann: Das wäre eine fantastische Idee. Ich erinnere mich allerdings nur an einen Fall, in dem das funktionierte. Die Wiener Philharmoniker lösten in den Neunzigern in den USA gewaltigen Protest aus, weil sie es bis dahin abgelehnt hatten, weibliche Mitglieder aufzunehmen. Amerikanerinnen haben damals kritisiert, wie unglaublich es sei, dass dieses Orchester, obwohl mit staatlichen Mitteln finanziert, derart gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung verstößt. Und weil ihnen die Kritik das Geschäft in den USA gewaltig verhagelt hätte, haben sie die erste Musikerin als Mitglied zugelassen. Das heißt: Druck aus der Öffentlichkeit kann viel bewirken.