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Norbert Lammert: „Ob ich doch Musik hätte studieren sollen?"

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) will im Herbst aus dem Bundestag scheiden. Jetzt ist er unter die Librettisten gegangen.

Elisa von Hof


Er runzelt die Stirn und zieht seine Augenbrauen zusammen, beugt sich langsam nach vorn, als wolle er jeden Moment eingreifen in das, was sich da abspielt. Norbert Lammert ist angestrengt, das ist ihm deutlich anzusehen. Bloß sitzt der Bundestagspräsident nicht im Plenarsaal und er lauscht auch keiner politischen Debatte, bereit die Diskutanten zur Räson zu rufen, dafür ist er ja bekannt. Nein, Lammert hört zu - und zwar der Generalprobe des Deutschen Symphonie-Orchesters, das nicht Schubert oder Bach spielt, den Lammert sehr schätzt, sondern seine eigene Musik. Es ist eine Premiere für den CDU-Politiker. Denn es ist das erste Mal, dass Lammert die Komposition so hört, den Chor, die Solisten, das triumphale Donnern und das Zweifeln in den Stimmen, und vor allem das: seinen eigenen Text. Denn Lammert ist unter die Librettisten gegangen.


Musik ist schon immer seine Leidenschaft

Auf Zuruf des Komponisten Stefan Heucke hat er eine deutsche Version des lateinischen "Ordinarium missae" geschrieben, er hat also die Teile der Liturgie ins Deutsche übertragen, die während des Kirchenjahrs gleich bleiben: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei. Die hören sich nicht so an wie gewohnt. Immer wieder stolpert man über Sätze, die man so nicht kennt. Genau darum geht es Lammert, der für seine uferlosen Satzkonstruktionen bekannt ist und dieser Tage mit dem Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache für die "beispielhafte sprachliche Qualität" seiner Reden dekoriert wird.

Es war ihm wichtig, die Konzertmesse in ein modernes, verständliches Deutsch zu kleiden, frei von abgeschliffenen Formeln und Sätzen, die bereits bei jedem Grundschulkind so eingepaukt sind, dass es die Sätze im Halbschlaf herunterbeten kann. "Es ist eine subjektive Annäherung an einen Text, auch an Glaubensüberzeugungen, die, nur wenn sie im Wortsinn frag-würdig bleiben, auch lebendig bleiben", sagt Lammert, die prall gefüllte Akte mit Bürounterlagen unter den Arm geklemmt. Selbst hier, im großen Sendesaal des RBB, wo das Stück geprobt wird, ehe es am Montagabend im Konzertsaal aufgeführt wird, ist er nicht bloß Lammert, der Librettist, nein, er hat den Bundestag immer mit dabei.

Lammert, das erste von sieben Kindern eines Bochumer Bäckers, hat sich schon früh für Musik begeistert. Vielleicht kam die Liebe zur ihr schon vor der zur Politik. Jedenfalls hat er als Kind Orgel und Cembalo gespielt, für Schumann und Beethoven geschwärmt, sogar mit dem Gedanken hantiert, Dirigent zu werden.


Musik hört er mitternachts, wenn es leise wird um ihn

"Ob ich doch Musik hätte studieren sollen? Nein, mit dieser Frage habe ich mich vor 50 Jahren kurz und schmerzhaft befasst", sagt und fügt an, "so schön es gewesen wäre, wenn ich die Musik zum Beruf hätte machen können, so vernünftig war es, rechtzeitig nach etwas anderem zu gucken." Er sei sich ziemlich sicher, sagt er so bestimmt, als erwarte er einen stenografischen Bericht, dass er sich so manche Depression erspart habe. Weil er sich für ein Soziologiestudium entschieden, weil er der Versuchung widerstanden hat, Musik ohne Erfolgsaussichten zum Beruf zu machen. Die ist, klar, eine große Leidenschaft von ihm geblieben. "Musik ist eine Dimension, auf die ich nicht verzichten wollte und könnte." Wenn der Plenarsaal weit weg ist, mitternachts, wenn es leise wird um den 68-Jährigen, dann schallt Musik aus seiner Wohnung.

Die Übertragung der deutschen Messe sei ihm "aus der Feder geflossen". Als Heucke ihn um einen ersten Entwurf bittet, nicht ganz so romantisch wie Schuberts Version aus dem 19. Jahrhundert, nicht so trocken wie eine wörtliche Übersetzung, dauert es nur wenige Wochen, bis Lammert den als "Word"-Dokument verschickt. Ganz uneitel, bereit für Einsprüche. Dass das so gut klappt zwischen den beiden und diesen christlichen Texten - Lammert ist Katholik, Heucke Protestant - das liegt vielleicht daran, dass es nicht die erste Zusammenarbeit ist.

Bereits 2011 hatte Lammert sich an die Interpretation eines populären Textes gewagt, das Vaterunser, und Heucke hatte das so gefallen, dass er es gleich vertonte, und dass er mehr wollte von Lammerts Texten. Auch hier hatte der Politiker "Stolperer" eingebaut, also Bekanntes verfremdet. Das hat ambivalente Reaktionen hervorgerufen. Was ihm einfiele, diesen bekannten Text so zu bearbeiten, wurde er gefragt. Andere haben ihm jedoch geschrieben, dass sie nun zum ersten Mal seit ihrer Kindheit bewusst über das Gebet nachgedacht hätten. Weil er sie hat stolpern lassen. So wie bei der Übertragung der deutschen Messe und seiner "ganz bewussten, sehr subjektiven anderen Akzentsetzung einiger Aussagen".

Auch wenn ihm diese Arbeit Freude bereitet habe, habe er keinen Ehrgeiz entwickelt, nun mehr Texte zu übertragen. Dabei hätte Lammert in wenigen Monaten mehr Zeit dafür. Er wird bei der kommenden Bundestagswahl nicht mehr kandidieren und den Plenarsaal im Herbst nach 37 Jahren verlassen.

"Die Aussicht, in Zukunft häufiger Terminkollisionen zugunsten von Kulturabenden und gegen politische Verpflichtungen entscheiden zu können, finde ich außerordentlich attraktiv" sagt er, und lächelt. Und außerdem, fügt er noch an, es sei eine wirklichkeitsfremde Vorstellung, nach Abschluss eines aktiven politischen Lebens aktiver Musiker zu werden. "Ich bleibe Musik- und Literaturliebhaber und bin ganz erleichtert darüber, dass ich mich - wenn überhaupt - von der Politik verabschiede, aber nicht von der Kultur."

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