Sie hatte ein Haus am Meer. Jetzt muss sie sich ihre Schlafstube, einen weißen Honda Geländewagen, mit zwei Hunden teilen. Seit die 67-jährige Barbara Harvey Anfang des Jahres ihren Job als Beauftrage von Darlehnsanträgen verloren hat, muss sie ihr Bett jede Nacht in ihrem Auto zurechtmachen. Die wenigen Ersparnisse, die sie noch hatte, waren schnell aufgebraucht. Das Leben in Santa Barbara, Kalifornien, ist nicht billig: Ein Haus von mittlerem Wert kann leicht über eine Million Dollar kosten. Und so gingen drei Viertel ihres Gehalts für die Miete verloren. Außer dem Geländewagen und den beiden Golden Retrievern ist Barbara Harvey von ihrem früheren Leben nichts geblieben. "Mein Leben ist den Bach runter", erzählt sie einem CNN-Reporter. "Es ist alles so schnell geschehen."
Ähnlich wie Barbara Harvey geht es immer mehr Amerikanern, die durch den freien Fall der Wirtschaft ihr Hab und Gut verloren haben und sich nun auf der Straße wiederfinden. Dabei ist der 67-Jährigen noch ihr Auto geblieben. Die meisten der Betroffenen haben alles verloren. Ohne Haus, Auto und Geld, bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als sich vom letzten Ersparten ein Zelt zu kaufen und dorthin zu ziehen, wo bereits andere ihre Zelte und Baracken aus Abfallholz aufgestellt haben.
Eine der bittersten EpisodenDer Anblick dieser Zeltsiedlungen, Tent Cities genannt, weckt Erinnerungen an die 1930er Jahre in den USA. Während der Großen Depression nannte man solche Barackenlager Hoovervilles - benannt nach dem damaligen US-Präsidenten Herbert Hoover, der für den Absturz der Wirtschaft verantwortlich gemacht wurde. Diese Elendsviertel, der durch die Wirtschaftskrise mittellos Gewordenen, gehören zu einer der bittersten Episoden der amerikanischen Geschichte. Jetzt, knapp achtzig Jahre später, scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Quer durch Amerika sprießen Tent Cities aus dem Boden. Vom äußersten Nordweststaat Washington, über Nevada und den Golden State Kalifornien bis in den Süden nach Florida und Georgia.
Eine dieser Zeltstädte findet man in Kaliforniens Hauptstadt Sacramento. Die Tent City "Wasteland", wie sie die Bewohner frei nach T. S. Eliots Gedicht "Das wüste Land" nennen, ist über die letzten Wochen zu zweifelhaftem Ruhm gelangt. Dank einer TV-Reportage von Amerikas bekanntester Talkshowfrau, Oprah Winfrey, die eine nationale wie internationale Berichterstattung nach sich zog. Obwohl die meisten der etwa 200 Bewohner schon seit Jahren obdachlos und nur wenige direkte Opfer der Immobilienkrise sind, spricht der steigende Bedarf nach Hilfe in Kaliforniens Hauptstadt eine eindeutige Sprache.
Ohne Job und ohne Dach über dem KopfDie Leiterin des St. John's Shelter für Frauen und Kinder in Sacramento, Michele Steeb, erklärt, die Zahlen der Bedürftigen seien innerhalb von zwei Jahren um das Zehnfache angestiegen. Jede Nacht müsse sie weit mehr als 200 Menschen abweisen, weil das Heim überfüllt sei.
Viele dieser Menschen haben erst kürzlich ihren Job verloren. Die Arbeitslosenzahl in Kalifornien liegt bei 10,5 Prozent und ist eine der höchsten im ganzen Land. Der bevölkerungsreichste Staat der USA wurde mit am härtesten von der Wirtschaftskrise getroffen. Zwangsvollstreckungen nahmen im letzten Jahr um 327 Prozent zu, täglich verloren fast 500 Menschen ihr Zuhause. Aber auf der Straße landen nicht nur die, die ein Eigenheim besaßen und ihre Raten nicht mehr zahlen konnten. Die Zahl der Obdachlosen erhöht sich auch deshalb, weil Eigentümer von Apartmentkomplexen ihren Besitz durch Zwangsvollstreckungen verloren haben und dadurch hunderte Mieter an die Luft gesetzt worden sind. Menschen, die einen guten Job hatten und der Mittelklasse angehörten, finden sich plötzlich ohne Obdach auf der Straße wieder.
Auch Tena und ihrem Mann Corvin, der bis vor Kurzen noch gutes Geld mit dem Verkauf von Autos verdiente, stehen ohne Haus da. Das Ehepaar ist in den Fünfzigern und musste unlängst in Sacramentos Tent City einziehen, nachdem Corvin seinen Arbeitsplatz einbüß hatte. Die Obdachlosenheime waren überfüllt, und so kaufte sich das Ehepaar ein kleines Zelt von seinen letzten Ersparnissen. Ihrem 35-jährigen Sohn habe sie noch nichts von ihrer neuen Situation erzählt, erklärt Tena. "Er soll sich keine Gedanken machen. Ich ruf ihn einmal im Monat an und erzähl ihm, dass wir gesund sind und dass es uns gut geht."
"Es ist ein hartes Leben"In unmittelbarer Nachbarschaft von Tena und Corvin lebt Jim. Nach 30 Jahren im Baugewerbe bekam er vor einem halben Jahr immer weniger Aufträge, bis sie schließlich ganz ausblieben. "Ich bin daran gewöhnt, Strom, ein eigenes Badezimmer, einen Fernseher und ein Dach über dem Kopf zu haben", sagt er. "Nie im Leben habe ich daran gedacht, hier zu enden." Obwohl er jeden Tag zu lokalen Baufirmen geht und nach Arbeit fragt, kriegt er überall die gleiche Antwort: "Wir stellen keine Leute ein."
Wohl keiner der Anwesenden in "the wasteland" hätte jemals damit gerechnet, einmal in einem Zelt wohnen zu müssen. Es ist eine Katastrophe, auf die man sich aber wohl oder übel einstellen muss. Das Leben im Zelt erinnert Tena an die Pioniertage und Besiedlung des Westens der USA. "Man muss viel Neues lernen", sagt sie den Kamerateams vor Ort. "Es ist ein hartes Leben."
In Kalifornien sind Obdachlose keine Neuigkeit. In Sacramento leben fast 1300 Menschen auf der Straße. Seit Langem kennt die Stadt den Anblick von Menschen, die mit Einkaufswagen, gefüllt mit Schlafsack und schwarzen Mülltüten, durch die Straßen ziehen. Doch die jetzige Situation überfordert die Behörden. Die Zahl der Obdachlosen ist in den letzten zwei Jahren um 26 Prozent gestiegen. Keiner weiß, wohin mit den Menschen, die keinen Platz mehr in den entsprechenden Unterkünften finden. Die Stadt überlegt, die Zeltstadt räumen zu lassen und die Bewohner in leerstehenden Häuser unterzubringen. Langfristig würde man das Problem so aber nur verschieben, nicht beseitigen. Dennoch beschlossen Kaliforniens Gouverneur Schwarzenegger und Sacramentos Bürgermeister Kevin Johnson, die Zeltstadt und ihre Bewohner auf das lokale Messegelände umzusiedeln. Der Umzug garantiert den Menschen einen trockenen Unterschlupf, medizinische Versorgung und eine warme Mahlzeit, ließ Schwarzenegger verlauten.
Lesen Sie auf der zweiten Seite: Selbst die mexikanischen Immigranten wandern wieder zurück über die Grenze nach Mexiko ...
Wenn es auf den ersten Blick auch erschreckend scheint, mit welcher Geschwindigkeit Zwangsvollstreckungen die USA überziehen - überraschend ist es nicht. Einige Analysten sehen in Hypotheken mit flexibler Verzinsung den Grund, warum so viele Menschen ihre Häuser verlieren. Eine Art von Hypothek, bei der sich der Zinssatz der Marktsituation anpasst. In machen Fällen hatte sich so plötzlich der monatliche Zinssatz verdoppelt. Wer ein großes Einkommen hatte, war in der Lage, eine Zwangsvollstreckung vorerst abzuwehren. Geht der Arbeitsplatz jedoch verloren, kann man sich nur noch auf seine finanziellen Rücklagen verlassen. Doch da herrscht bei den meisten Amerikanern Mangel. Viele US-Bürger leben von Lohnscheck zu Lohnscheck. Einer Studie der Metropolitan Life Insurance Company zufolge gaben 50 Prozent der Befragten an, dass sie ihren finanziellen Verpflichtungen ohne regelmäßiges Einkommen nicht länger als einen Monat nachkommen könnten. Vorraussetzungen, die wie geschaffen sind für ein dramatisches Ansteigen überfüllter Obdachlosenheime und Zeltstädte in den USA.
Höchste Arbeitslosenquote seit JahrenDass solche Elendsviertel nicht nur ein Übergangsproblem sind, das sich in den nächsten zwei oder drei Monaten von selbst löst, offenbaren die Zahlen aus der US-Wirtschaft. Die nationale Arbeitslosenquote ist auf dem höchsten Stand seit 25 Jahren. 8,1 Prozent aller US-Amerikaner sind arbeitslos gemeldet, und manchen Schätzungen zufolge werden dieses Jahr noch weitere vier Millionen Arbeitsplätze verloren gehen. 12,5 Millionen Amerikaner sind ohne Arbeit und ohne Lohn - mehr als alle Einwohner des Staates Pennsylvania. Selbst die Arbeitslosenquote unter Hochschulabsolventen hat einen Höchstwert erreicht.
Und so schießen die Zelt- und Barackenstädte nicht nur in so sonnenreichen Staaten wie Kalifornien, Nevada oder Arizona aus dem Boden. Auch im äußersten Nordwesten der USA, im Bundesstaat Washington an der Grenze zu Kanada, finden sich solche Lager. Eine dieser Zeltstädte ist nach Greg Nickels benannt, dem Bürgermeister von Seattle, der Hauptstadt von Washington. Die rund 100 Bewohner von Nickelsville leben entweder in Zelten oder kleinen Werkzeughütten auf einem Kirchenparkplatz im Westen der Stadt. Seattle ist eine der Städte in den USA mit dem meisten Niederschlag. Bei einer Durchschnittstemperatur von knapp über 10 Grad ist das Leben auch in den Sommermonaten und mit einem Dach über dem Kopf alles andere als gemütlich.
Das Auto als zu HauseUm schlechtes Wetter muss sich Barbara Harvey keine Gedanken machen. Santa Barbara im Süden Kaliforniens hat so viele Sonnenstunden wie Millionäre. Und auch um undichte Stellen oder um ihre Sicherheit braucht sie sich keine Sorgen machen. Anstatt in einem Zelt aus Stoff schläft sie in ihrem Auto auf einem gesicherten Parkplatz. Der Stellplatz ist Teil eines Projekts vom New Beginnings Center. Weil es in Kalifornien eigentlich verboten ist, in seinem Auto zu schlafen, wurden in Zusammenarbeit mit der Stadt Santa Barbara elf weitere solcher gesicherten Abstellplätze gegründet. Den Menschen soll so ein Abrutschen in die Kriminalität erspart bleiben.
Wenn der Parkplatz um 7 Uhr morgens öffnet, geht Harvey mit ihren zwei Hunden spazieren und hält Ausschau nach Familien, die in Autos schlafen, um ihnen von den Parkplätzen des New Beginnings Centers zu erzählen. Danach geht sie zur Arbeit, ein Halbtagsjob für acht Dollar die Stunde, um überhaupt über die Runden zu kommen. Trotz des Einkommens und etwas staatlicher Unterstützung reicht es bei Weitem noch nicht aus, um sich wieder ein Apartment mieten zu können. Aber sie werde die Situation bewältigen, erklärt sie. "Ich bin gesund, den Hunden geht es gut, und ich bin in einer sicheren Umgebung. Ich komme da schon durch."
Der Tiefpunkt ist noch nicht erreichtOb Tent City, Parkplatz oder Parkbank: Das Abrutschen der Menschen aus der Mittelschicht in die Armut und Obdachlosigkeit ist die Folge der verfehlten Wirtschaftspolitik von George W. Bush. Wie tief Bush die USA in ein wirtschaftliches Schlammloch gefahren hat und wie schwer es ist, Arbeit zu finden, zeigt die Lage der mexikanischen Immigranten: Weil selbst sie kaum noch Jobs finden, wandern die ersten wieder zurück über die Grenze in Richtung Mexiko. Obwohl es noch keine genauen Zahlen gibt, sprechen die ersten schon vom Mexodus.
Und doch ist der Tiefpunkt der globalen Wirtschaftskrise noch nicht erreicht. In den kommenden Monaten werden tausende weitere Arbeitplätze verloren gehen, die Zahl der Zeltstädte wird zwangsläufig anwachsen. Alle Hoffnung ruht auf Präsident Obama. Zur Ankurbelung der Wirtschaft hat seine Regierung ein fast 800 Milliarden Dollar schweres Rettungspaket verabschiedet.
Und vor Kurzem verkündete er auf einer Pressekonferenz, es sei nicht akzeptabel, dass Kinder und Familien ohne Dach über dem Kopf leben - in einem so reichen Land wie die USA. Ob das Milliarden-Programm den Menschen einen Weg aus dem Elend zurück in ihre Häuser ermöglicht, ist jedoch ungewiss.