Das Rilke-Projekt gastierte derweil in der Heimspielstätte der Bundesliga-Handballerinnen des HSG Bensheim/Auerbach. Moderator Gerhard Kämpfe bedankte sich im Laufe des Abends für das Klatschen der Zuhörerinnen und Zuhörer, weil es auch eine gewisse Ventilator-Funktion habe. Die Vortragenden Nina Hoger, Anna Thalbach, Robert Stadlober und Ben Becker, die sie begleitende Band ebenso wie der mitreißende Klarinettist Giora Feidman, der grandiose Akkordeon-Virtuose Enrique Ugarte und Sänger Edo Zanki haben dafür gesorgt, dass das Rilke-Projekt nicht in die Jahre kommt und ein nach wie vor erfrischendes Lyrik-Format ist. Schade, dass an diesem Abend so wenig junge Menschen davon gekostet haben.
Er tritt hinter den Notenständer, platziert das Textblatt darauf, legt die Handflächen wie zu einem Gebet aneinander, holt hörbar Luft, hält kurz inne: „(...) Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. (...)" Wenn Ben Becker aus den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" rezitiert, ist es dieser tiefe, kraftvolle Bass, der auf wahnsinnig zartfühlende, intime Gesten trifft und einen hineinzieht in Rainer Maria Rilkes Sätze, in seine Worte, die zusammen und jedes für sich ein ganzes Bild ergeben. Wenn Ben Becker „Becher" sagt (Rilkes Brief an Nanny Wunderly-Volkart vom 2. April 1924) ist nicht einfach das gesprochene Wort im Raum, fast ist der Becher greifbar, seine Gestalt und Beschaffenheit, mit allen Bedeutungen, die Rilke ihm verliehen hat.
Mehr wie als stünde Rilke vor einem, authentisch, las, sang Robert Stadlober „Ich will aufgehen in Dir; Wie das Kindergebet im lauten jauchzenden Morgen; Wie die Rakete bei den einsamsten Sternen; Ich will Du sein." Ein Moment, den viele zurecht mit „Gänsehaut pur" beschreiben würden. Zwei Mal wurde der österreichische Schauspieler begleitet von Edo Zanki. Das Duett war anrührend, ihr gesungenes Gespräch: „Ist es möglich? Es ist möglich!" eine Wonne. Nina Hoger übermittelte u.a. das Gedicht „Ich ließ meinen Engel lange nicht los...". Sie rezitierte ihre Auswahl mitunter frei, ohne Textblatt, was ihren Vortrag zum Auditorium hin öffnete. Anna Thalbach trug u.a. Briefe von Rilke an die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé vor, die er verehrte. Dank Anna Thalbachs reichem Erfahrungsschatz als Sprecherin von Hörbüchern und in Hörspielen drangen Rilkes Auseinandersetzungen mit sich selbst über die Ohren direkt in die Blutbahn und breiteten sich im ganzen Körper aus.
Das letzte Wort des Abends aber hatte Giora Feidman, der mit dem ganzen Saal ein Liedchen einstudierte, ehe das Publikum hinaus in die abgekühlte Abendluft stob und wieder von der Menschenmenge auf der Hesstentagsfestmeile aufgenommen wurde.
Auch die Schöpferin und der Schöpfer des Rilke-Projekts, nämlich Richard Schönherz und Angelica Fleer, waren nach Bensheim gekommen. Sie arbeiten derzeit an einem neuen Projekt. „AMO" umfasst u.a. Lyrik von Leonard Cohen, Hilde Domin und Johann Wolfgang von Goethe. Das Thema Liebe interpretieren u.a. Xavier Naidoo, Martina Gedeck, Max Mutzke und Katja Flint. Begleitet werden die poetischen Worte von internationalen Instrumentalisten aus Klassik, Jazz, Pop und Weltmusik. Die Veröffentlichung ist für Herbst dieses Jahres geplant.
Text: Dörthe Krohn