Wieso hab ich das noch mal machen wollen? Ich liege wach auf einem Parkhausdeck, mit dem Lift in den sechsten Stock inmitten der Quadrate. Die Matratze könnte weicher sein. Ich muss mal, aber die Toilette steht unten auf dem Gehweg und erscheint mir um zwei Uhr morgens unerreichbar. Die Clique, die seit Stunden trinkt und quatscht und lacht und was weiß ich sonst noch treibt und sich in dieser klaren Frühsommernacht in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Bett auf dem Parkdeck eingerichtet hat, will offensichtlich immer noch nicht schlafen gehen. Auch auf den Straßen ist noch gehörig was los. Nach einem vollen Tag in Frankfurt waren meine Freundin und ich abends in Mannheim angekommen, um im künstlerischen Hotelprojekt Shabbyshabby einzuchecken, das während des Festivals „Theater der Welt" noch bis 8. Juni ganz neue Mannheim-Ansichten ermöglicht.
Einchecken in die Flammen
Vor dem Nationaltheater steht die Hotellobby. Hier erhalten wir die Nummer für das Zahlenschloss zu unserem Hotelzimmer, den Schlüssel für unsere eigene mobile Toilettenkabine, eine Taschenlampe, eine Flasche Wasser, einen Stadtplan und eine mündliche Wegbeschreibung zum Objekt „Feuer und Flamme" auf dem Parkhaus neben dem Stadthaus. Da wir am Nationaltheater einen guten Parkplatz gefunden haben und uns noch ein bisschen die Beine vertreten wollen, laufen wir vorbei am Rosengartenplatz (auch hier steht ein Shabbyshabby-Hotelzimmer, das „For'rest"), am Wasserturm, durch die Fußgängerzone bis zum Paradeplatz. Von dort aus sind schon die in den blauen Himmel ragenden roten „Flammen" der Zimmerarchitektur zu sehen. Ecke N2 steht unsere „Toitoi". Wir gehen in das Parkhaus, fahren in die oberste Etage und – wow! Wie ein züngelndes Lagerfeuer sieht die eindrucksvolle Konstruktion der sechs Erbauerinnen und Erbauer, nämlich Jacob Frisch, Maria Hofmann, Katharina Haeffner, Lukas Meier, Carolin Reinhardt und Christine Siebert, aus. Holzlatten ragen kreuz und quer in die Höhe und sind so mit gebrauchten, aufgeschnittenen roten Feuerwehrschläuchen umwickelt und verbunden, dass der Flammeneindruck entsteht. Drei Stufen führen auf eine Miniveranda und zur Eingangstür in das Schlafgemach. Tür auf und noch einmal – wow. Zwei blütenweiße, glattgestrichene Bettdecken und akkurat platzierte Kopfkissen thronen auf einem französischen Bettmaß. Eine quer gelegte rote Decke ist für Gäste, die zum Frieren neigen und zugleich Eyecatcher. Am Kopfende öffnet sich das zeltartige Innere durch eine Plexiglaswand der Stadt und – hoffentlich – für einen spektakulären Sonnenuntergang und einen Sternenhimmel. Angetan sind wir auch vom Spion in der Tür und von der Miniwaschecke, bestehend aus einem Spiegel und einem roten Kübel. Augenfällig und liebevoll ist zudem die Sonnenblume auf der Veranda. Wir stellen unsere Taschen ab, verdrehen das Zahlenschloss und gehen in eins der umliegenden, gut besuchten Restaurants zum Abendessen. Wieder zurück auf dem Parkdeck erfüllt sich, was in der Beschreibung zu dem architektonischen Entwurf steht: „Wenn die Sonne untergeht, wird das Licht ihr Zimmer 'Feuer & Flamme' hoffentlich zum Lodern bringen." Ein feuerroter Abendhimmel steht über der Kuppel der Jesuitenkirche und der faszinierenden Kurt-Schumacher-Brücke am Horizont. Wir öffnen die Rotwein-Piccolos, die meine Freundin für uns mitgeschleppt hat (für jeden Geschmack die passende Sorte) und genießen am Rande des Parkhausdecks dieses wunderschöne Himmelsspiel bis das künstliche Lichtermeer der Stadt restlos den Job der Sonne übernimmt.
Belebter Nachtplatz
Zwei junge Männer tauchen auf, verziehen sich aber wieder. An einer anderen Stelle des Decks kommen ein paar junge Leute. Das letzte Auto, das noch auf der Etage parkte, wird weggefahren. Wir verkrümeln uns auf unser Bett, denn wir können ja von drinnen noch ein bisschen in die Nacht schauen. Von der Straße dringt es laut zu uns hoch: Straßenbahnen donnern die Kurpfalzstraße entlang, gefühlt die ganze Nacht. Stimmengewirr unzähliger Menschen in bester Freitagabendlaune, immer wieder Grölen und lautes Gelächter. Getunte Motorräder und aufheulende Automotoren von Leuten, die möglicherweise Aufmerksamkeit suchen. Plötzlich bebt die Veranda und versucht jemand die Tür zu öffnen. Wie gut, dass man sie von innen verriegeln kann. Meine Freundin springt an die Tür und macht dem da draußen eine Ansage. Ich sitze senkrecht im Bett und überlege die Notrufnummer zu wählen, die uns die Rezeptionistin mitgegeben hat. Der Mann geht, wir kommen ein bisschen runter, aber mulmig bleibt es. Ich gebe die Nummer der Security sicherheitshalber in mein Handy ein. Der einzige Augenblick, wo die Taschenlampe zum Einsatz kommt. Es ist ansonsten hell um uns. Die Parkhausbeleuchtung geht automatisch an, wenn jemand aus dem Fahrstuhl kommt. Außerdem liegen wir auf einer Höhe bzw. ein bisschen niedriger als die teils beleuchteten obersten Stockwerke der umstehenden Wohnhäuser. Stimmen, das Geklapper von Flaschen und Musik aus einem Gettoplaster – wir sind auf dem großen Parkdeck nicht alleine. In dieser besonderen Location machen ein paar junge Männer und Frauen ein bisschen Party. Wir versuchen dennoch zu schlafen. Zur Ruhe komme ich aber nicht. Immer wieder gucke ich durch den Spion, was sich tut. Wenn das Parkhauslicht angeht, entstehen durch die Verstrebungen der Holzstangenkonstruktion spannende Schattenbilder auf der weißen Plane, die den Innenraum auskleidet. Zwischen horchen und dösen denke ich an Menschen, die auf der Straße leben. Ich stelle mir vor, dass es dort doch immer laut und hell ist und man sehr ungeschützt vor Hauseingängen oder unter Brücken schläft. Ich bin es gewohnt, ein festes Gehäuse um mich herum zu haben, in dem ich mich sicher fühle. Wild campen irgendwo in der Natur wäre schon ein Abenteuer für mich, aber "wild" campen in der Stadt – ich denke kurz darüber nach, abzubrechen. Meine Freundin und ich witzeln über dies und das und wir lachen uns Mut zu. Ich bin froh, dass der Wein ein bisschen Wirkung zeigt. Zwei Männer reden und telefonieren direkt neben unserem Bett. Meine Freundin öffnet die Tür und macht wieder eine Ansage. Die beiden ziehen sich in die „Partyzone" des Parkdecks zurück. Irgendwann schlafe ich ein, weil ich einfach zu müde bin. Als ich am sehr frühen Samstagmorgen wieder aufwache, werden Glasflaschen gegeneinandergeschlagen und jemand ruft: „Aufstehen, aufstehen." Ob das vom Parkdeck kommt oder unten vom Altglascontainer vermag ich nicht festzustellen und ich nicke noch mal ein.
Mannheimer Morgen
Der Sonnenaufgang ist von einer zarten Schönheit, natürlich quietscht eine Straßenbahn, aber für den Moment haben Vögel den Hörraum erobert und zwitschern ein hoffnungsfrohes Morgenlied. Wir sind alleine auf dem Parkdeck. Wir putzen uns die Zähne und machen uns ein bisschen mit dem Wasser aus der mitgegebenen Plastikflasche frisch. (Beim Nationaltheater stehen die Duschen.) Eine neue Geräuschkulisse legt sich über den jungen Tag. Für den bevorstehenden SAP Arena Marathon werden Absperrgitter aufgestellt. Erst mal einen Kaffee organisieren. Wir laufen über den Paradeplatz, biegen rechts in die Fußgängerzone ein und finden sofort einen Bäcker. Wunderbar – Cappuccino und Croissants. Wir drehen noch eine Runde in den Quadraten und schauen uns das „Monumotel", das um das Schiller-Denkmal herumgebaut ist, sowie die Jesuitenkirche an, deren Dach in den vergangenen Stunden so oft unsere Blicke auf sich zog. In einem Café auf der Kurpfalzstraße nehmen wir zu einem Song der „Söhne Mannheims" unser zweites Frühstücksgetränk zu uns. Danach packen wir unsere Sachen zusammen, verdrehen ein Mal mehr das Zahlenschloss und kehren dem Hotelzimmer, das uns, was seine Architektur und die damit verbundene Idee betrifft, sehr begeistert hat, den Rücken. Auf unserem Spazierweg zur Hotellobby kommen wir am Marktplatz vorbei, wo bereits das Markttreiben in vollem Gange ist. An einem Rand des Platzes steht der Shabbyshabby-„Schlafdom", der aus runden Altglascontainern gebaut ist. Auf den Löchern für den Flascheneinwurf sitzen, mit ein bisschen Abstand für die Luftzufuhr, Waschmaschinenschüsseln als Fenster. Wir fragen uns, was eine Nacht dort mit sich gebracht hätte. Auf jeden Fall hätte man den Aufbau der Marktstände mitbekommen, zu einer Uhrzeit, wo andere noch wach oder gerade erst ins Bett gegangen sind. Ab neun Uhr kann man auschecken. Wir sind kurz vor der Zeit an der Rezeption vorm Nationaltheater und nicht die ersten. Ein Pärchen wartet schon und eine junge Frau mit Rucksack rennt so schnell sie kann die Installation „Double Shooting" von Rabih Mroué entlang. Wenn man in 18 Sekunden die 72 Plakatwände mit Videostandbildern abläuft kann man das Video, in dem syrische Demonstranten ihren eigenen Tod filmen, nämlich wie der Schütze sein Gewehr auf sie abfeuert, in Echtzeit sehen. Wir geben Toilettenschlüssel und Taschenlampe zurück und bekommen ein Frühstücksmärkchen für die Kantine. Hier kann man eher typisch deutsch mit Brötchen und Marmelade, aber auch Herzhaftes wie Würstchen, Rührei oder gebratene Paprika und Pilze frühstücken und die Übernachtungserfahrungen mit anderen austauschen. Unser drittes Frühstücksgetränk ist ein Tee, den wir auf der Terrasse genießen, ehe wir uns noch ein paar Shabbyshabby-Zimmer in der Gegend anschauen.
Shabbyshabby am Neckar
Wir laufen an der „Stadtlodge" in der Mozartstraße vorbei. Sie macht den Eindruck, als könnte man sich dort erhaben über die Risiken und Nebenwirkungen des Großstadtdschungels entspannt zurückziehen. Über die Friedrich-Ebert-Brücke queren wir den Neckar und laufen zum „Collini Bay Resort". In der renaturierten Flachwasserzone am Collini-Steg stehen, umkreist von Schwänen, drei Pfahlhäuschen für jeweils einen Übernachtungsgast. Jede Menge Hunde toben durch die Wiesen, ein gerissener und nun von Fliegen umschwärmter kleiner Hase liegt auf dem Fußweg. Ziemlich viel Müll verteilt sich entlang des Uferwegenetzes. Auch um das Zimmer „3-Lichter" herum, das ein bisschen höher an der Neckarpromenade steht, sieht es irgendwie ungepflegt aus, was uns als in dem Punkt nicht verwöhnte Frankfurterinnen irritiert. Am Alten Meßplatz angekommen queren wir den Neckar über die Kurpfalzbrücke zurück in den Stadtteil Jungbusch. Auf dem Museumsschiff des Technoseums kann man sich im„Umbrella" in den Schlaf schaukeln lassen. Das bunte Gebilde aus aufgespannten Regenschirmen sieht gemütlich und einladend aus. Am Cahn-Garnier-Ufer gehen wir zurück zu unserem Auto, wohl wissend, dass wir weitere tolle Zimmer verpassen werden.
Wieso ich das machen wollte? Ich habe Mannheim neu entdeckt, aber vor allem die Stadt spüren können!
Laut Auskunft an der Rezeption sind bis 8. Juni alle Shabbyshabby-Zimmer ausgebucht. Anschauen kann man sie sich von außen aber meist jederzeit und von innen während einer Führung. Alle Infos: www.theaterderwelt.de
Text und Fotos: Dörthe KrohnDas Hotel Shabbyshabby ist ein Projekt von Theater der Welt 2014, raumlaborberlin und ARTE Creative in Zusammenarbeit mit dem Studio umschichten und ConstructLab, gefördert von der Stadt Mannheim und ermöglicht durch jede Menge Unterstützer und Sponsoren.
Ankündigungstext in der reinMein