In einer Bühnensenke, einem Nest ähnlich, doch umgeben von Stacheldraht, pflegt eine Frau schmerzerfüllt zärtlich den Leichnam ihres Mannes. Sie wäscht ihn und sie wird die Wunden seines geschundenen Körpers zunähen, damit er wieder vollkommen werde. So wird sie ihn dann fotografisch und in ihrem Gedächtnis festhalten wollen. Noch in der Hochzeitsnacht war er verschleppt und ermordet worden. Terror und Ohnmacht beherrschen das Leben unter Taiwans autoritärem Regime. Wie ihr ergeht es vielen anderen. Sie tragen die Bilder der gewaltsam Gestorbenen mit sich und ihre Geister, die nicht gehen und nicht losgelassen werden können. Auf Türen werden die Leichname der Taiwanesinnen und Taiwanesen gebettet. An der Totenbahre entäußern sich Trauer und Verzweiflung. In einem Raum zwischen Leben und Tod findet der Abschied statt, ganz intim und zugleich ist er eine kollektive Erfahrung.
Mei Hong Lin hat ihr Tanzstück „Die Brautschminkerin", das am 19. März 2011 im Staatstheater Darmstadt uraufgeführt wurde, nach einer Novelle der taiwanesischen Schriftstellerin Li Ang inszeniert. Die Hauptfigur, ausdrucksstark getanzt von Wencke Kriemer de Matos, ist schwanger, als sie ihren Mann verliert. Als Alleinerziehende eines Sohnes, dargestellt von Trung Pham Bao, verdient sie den Lebensunterhalt mit dem Schminken von Bräuten. Nach dem Tod ihres Mannes knüpft sie alle ihre Erwartungen an ihren Sohn.
Doch Autorin Li Ang und Choreografin Mei Hong Lin beschäftigen ihre Rezipientinnen und Rezipienten neben dem Thema der Traumatisierung eines ganzen Volkes und der kollektiven Trauer mit einem weiteren Tabu, der Transsexualität. Der Sohn ist transsexuell und obwohl er durch seine Karriere als Arzt die Vorstellungen seiner Mutter in diesem Punkt erfüllt, wendet sie sich von ihm ab.
Er ist nicht derselbe und doch war er es für sie in mancher Hinsicht. Nach dem Vater ist es nun der Sohn, dessen leblosen Körper die Brautschminkerin mit ihrem Brautkleid bedeckt und den sie schminkt wie ihre Kundinnen - maskenhaft. Unerwartet starb ihr Sohn, mit dem sie nach der Zerrüttung nicht mehr gesprochen hatte. Dass sie ihn kleidet und schminkt wie eine Frau, ist ihr Versöhnungsritual auf das bald darauf die Brautschminkerin selbst aus dem Leben scheidet.
Das Porträt der Brautschminkerin setzt sich aus der Mutter der Gegenwart (Wencke Kriemer de Matos) und der Mutter der Vergangenheit, getanzt von Andressa Miyazato, zusammen. Mei Hong Li geht es ausdrücklich nicht um die Darstellung der historischen Ereignisse in Taiwan. Sie möchte die psychologischen Folgen der Gewalt sichtbar machen, was ihr gelingt, und schließt sich mit dieser Schwerpunktsetzung der literarischen Vorlage von Li Ang an. Gewalt, Tod, Abschied, Trauer sind universelle Themen.
Kraftvolle Tanzszenen, starke Bühnenbilder und die Live-Musik von Michael Erhard sowie traditionelle taiwanische Musik machen aus Li Angs Geschichte ein Tanzstück das unter die Haut geht. Es ist anrührend, wenn die zärtliche Stimme und die klassische chinesische Griffbrettzither (Qin) von Li-Yu You den Raum erfüllen, und es jagen Schauer über den Rücken, wenn Peter de Grasse, der das Regime verkörpert, Wencke Kriemer de Matos in die Luft hebt als wäre sie eine Puppe und an anderer Stelle vernichtend am Boden hält.
In weiteren Rollen tanzen Pavel Povrraznik, Lee Bamford, Wout Geers, Anthony Kirk, Eszter Kozár, Celedonio Indalecio Moreno Fuentes, Francesca Poglie, Sabine Prokop, Maasa Sakano, Georgina Sanchez und Vicci Viles. Im Stück wirken zudem rund 40 Statistinnen und Statisten mit.
Musik: Gesang: Li-Yu You und ihr Bruder Yuan-Keng Yu. Er hat für die Produktion „Die Brautschminkerin" traditionelle Liedtexte bearbeitet und neue Texte verfasst. Klavier: Michael Erhard. Der gebürtige Mannheimer arbeitete nicht zum ersten Mal mit Mei Hong Lin zusammen. Auch für ihre Tanzproduktion „Schwanengesang" (Tanzstück frei nach Bruges-la-Morte von Georges Rodenbach, Uraufführung 6. November 2009 im Staatstheater Darmstadt) komponierte er die Musik und gastierte mit dem Ensemble 2010 beim Taiwan International Festival in Taipeh. Qin: Li-Yu You Saxophon, Klarinette und Querflöte: Jens Hunstein Percussion: Robert Strobel
Bühne und Kostüme (sehr gelungen!): Dirk Hofacker
Weitere Aufführungen im Staatstheater Darmstadt, Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, im Kleinen Haus Weitere Vorstellungen am 25. März um 19.30 Uhr, 27. März um 16 Uhr, 1.,16. und 29. April jeweils 19.30 Uhr, 24. April um 18 Uhr, 7., 12. und 14. Mai jeweils 19.30 Uhr, 22. und 29. Mai jeweils 18 Uhr. Karten-Telefon 06151/2811600, Kassen-Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr, Samstag 10 bis 13 Uhr, Internet: www.staatstheater-darmstadt.de
Hintergrund: Das 228-Massaker: Statistinnen und Statisten in „Die Brautschminkerin" bringen weiße Steinquader auf die Bühne. Auf allen ist die Zahl 228 eingemeißelt. Die Zahl steht für das Datum 28. Februar 1947. 228 (2/28 - Monat/Tag) Nach der Kapitulation Japans 1945 kam Taiwan wieder unter nationalchinesische Herrschaft. Die Regierung der chinesischen Nationalpartei Kuomintang (KMT) unterdrückte die einheimische Bevölkerung und bescherte ihr wirtschaftliche Schwierigkeiten bis hin zu Nahrungsmittelengpässen. Am 28. Februar 1947 wehrte sich eine mutige Zigarettenverkäuferin gegen die Repressionen der Festlandchinesen und verkaufte illegal westliche Zigarettenmarken. Von einem Beamten auf den Verstoß angesprochen, begründete sie ihr Handeln damit, dass sie schließlich eine Familie zu ernähren habe und wurde daraufhin von dem Mann niedergeschlagen. Passanten kamen ihr zur Hilfe, ein Schuss fiel und schließlich brach sich der Ärger der Taiwanesen in einem Protestmarsch zum chinesischen Monopolamt Bahn. Die sich ausweitenden Proteste gegen die Missstände in Taiwan wurden von den Polizeitruppen des Hauptverwalters Chen Yi, der von Chiang Kai-Shek eingesetzt worden war, gewaltsam niedergeschlagen. Der sogenannte weiße Terror dauerte bis 1987 an. Bis dahin wurden tausende Taiwaner wegen ihrer angeblichen oder tatsächlichen oppositionellen Gesinnung verfolgt, gefoltert und hingerichtet. Mehrere Jahrzehnte verbot die Regierung über die Vorkommnisse zu sprechen und so wurden auch nachkommende Generationen in dieses kollektive Trauma mit hineingezogen.
Text: Dörthe Krohn Rétablir l'original