Ich war leider zu jung, um den ersten Schimanski-"Tatort" live zu erleben. Damals, am 28. Juni 1981, als Schimmi aus seinem Fenster auf eine triste Stahlwerkskulisse blickte, zum Frühstück zwei rohe Eier ins Glas schlug und bald das erste Mal "Scheiße!" brüllte. Als er prügelte, soff und auch sonst auf alles pfiff, was man von TV-Kommissaren erwartete.
Die Fernsehnation schwankte zwischen konsterniert und angewidert, die Stadt Duisburg war entsetzt - denn diesen Fleck Ruhrpott hatten sich die Macher um Regisseur Hajo Gies als Schauplatz ausgesucht, Götz George mit seinem derb-virilen Charme und seinen strahlend blauen Augen als Hauptdarsteller. Der Titel der ersten Folge lautete schlicht "Duisburg-Ruhrort".
Später saß ich als Duisburger bei Schimmi sonntags natürlich immer vor dem Fernseher. Genauer: Ich lag. Unsere Familie hatte eine strenge Sitz- und Liegeordnung. Mein Vater - im klassischen Achtziger-Freizeitdress aus Feinrippunterhemd, Jogginghose und Lederpantoffeln - lag halb auf der einen Couch, hatte die Füße auf der nächsten und rauchte dabei Zigarre, ohne auch nur einen Krümel Asche zu verlieren. Meine Mutter saß daneben, meine Schwester im Sessel schräg zum Fernseher. Ich als Letztgeborener lag nah vor dem Bildschirm, die Couchwand als Kopfstütze.
Götz George im Video: "Die Figur kann man nur hier ansiedeln"
Guck mal, die Straßenbahn 901!
Götz George ist gerade im Alter von 77 Jahren gestorben - wenige Tage vor dem 35. Jahrestag seiner "Tatort"-Premiere. Für Duisburger war Schimanski Pflicht, von Anfang an war der Krimi mit Schimmi ein echtes Fernsehereignis. Im Einheitsbrei heute ist fast egal, wer da gerade ermittelt, es sind eh zu viele Teams. Damals hat man sich tagelang gefreut: Schimanski kommt! Mangels "Tatort"-Schnellcheck wusste man wenig über die Folge, aber Hauptsache Schimmi war dabei, und es spielte in Duisburg.
So fieberte unsere Familie mit und hoffte, die Drehorte zu erkennen. Diese Straßenecke, ist das nicht Bruckhausen? Guck mal, die Straßenbahn 901 - und über die Brücke sind wir doch letztens mit dem Auto gefahren! Selten waren Duisburgs schöne Seiten zu sehen, zum Verdruss von Lokalpolitikern und Presse.
Aber mal ehrlich: Wo bitte gab es schöne Seiten im Duisburg der Achtzigerjahre? Jetzt komme mir keiner mit der Sechs-Seen-Platte. Damals dominierte Einheitsgrau die Straßen, und überall lugte im Hintergrund ein Kühlturm oder ein Hochofen heraus, auch wenn das Zechensterben längst in vollem Gange war.
Bergbau ("Pütt") oder Thyssen, das waren Duisburgs Arbeitgeber. Meine Schwester und ich liefen zweimal die Woche zu Doktor Niklas zum "Inhalieren", unsere Bronchien vertrugen sich nicht gut mit der nahen Thyssen-Hütte. Das Schöne am Bronchien-Problem: Im Sommerurlaub fuhren wir immer ans Meer - dafür danke ich meinen Eltern bis heute. Mein Vater war Techniker und Konstrukteur bei Babcock in Oberhausen, wo auch meine Schwester später ihre Lehre als Technische Zeichnerin machte; das Unternehmen wurde später arg gebeutelt und zerschlagen.
Nachdem die Streiks bei Krupp in Rheinhausen ihren Höhepunkt erreichten, griff die Folge "Der Pott" den Arbeitskampf auf; sogar Rio Reiser sang und spielte mit. Mördersuche war nur Nebensache. So war es ja immer bei Schimanski: Er sollte den Großen mal zeigen, dass man mit uns Kleinen nicht so umspringen kann. Schimmi war einer von uns, nicht gerade der Schlaueste, ein Bauchmensch durch und durch, das Herz am rechten Fleck, oft in der Eckkneipe, im Zweifel mehr der Faust zugetan als dem Diskurs. "Wo wir anrückten, wurden wir gefeiert. Sogar in den Puffs von Duisburg", sagte er in einem SPIEGEL-ONLINE-Interview.
Einmal war meine Mutter "Tatort"-Statistin
Einem Heranwachsenden nötigte das Respekt ab. Ein wenig wollten wir schon sein wie Schimmi, wenn wir Klingelmännchen machen, Chinaböller in die Straßenbahn warfen oder dort Fußball spielten, wos eigentlich verboten war und uns die Leute auf ihren Balkons immer verscheuchen wollten.
Es gab auch den einen oder anderen auf einem Balkon, der uns mal eben zum Zigaretten- oder Bierholen schickte, eine Mark Belohnung. Eine Mark! Was man damit alles kaufen konnte! Zehn Wassereis oder eine Riesentüte voller saurer Gurken oder Salmiakkugeln oder Brausebrocken. Und an der Bude fragte keiner nach dem Ausweis, wenn ein Zehnjähriger Zigaretten oder Bier holte. Man kannte sich halt.
Das Raubein mit der grauen Militärjacke, den Pedanten mit dem Schnäuzer und den Holländer - das Trio kannte man auch sehr gut. Götz George als Schimanski und Eberhard Feik in der Rolle seines pingeligen Kollegen Thanner werden bis heute in Umfragen oft zum beliebtesten "Tatort"-Gespann aller Zeiten gewählt. Und Chiem van Houweninge, der "Hänschen" spielte und auch einige der besten Drehbücher schrieb, war unverzichtbarer Sidekick. Aber was zum Teufel hatte ein Holländer in einem Duisburger Kommissariat verloren? Egal, seine Erklärung in der Folge "Moltke", wie die Niederländer Weihnachten feiern, gehört zu den wunderbarsten Momenten der Schimanski-Ära.
Überhaupt, "Moltke"! Meine ewige Lieblingsfolge. Nie war Schimanski spannender, atmosphärisch dichter oder humorvoller. Wie viele starke Folgen es gab, wird sowieso vergessen: vom Klassiker "Duisburg-Ruhrort" über "Der unsichtbare Gegner", "Kielwasser", "Kinderlieb" und "Der Pott" bis zu "Freunde" oder "Schwarzes Wochenende".
Da spielte übrigens auch meine Mutter mit, 50 Mark bekam sie als Statistin pro Tag. Einmal wurde sie unter Schaulustigen von einem Polizisten zurückgedrängt; einmal lief sie über ein Feld. Der beige Trenchcoat aus dieser Szene hängt wohl immer noch bei ihr im Schrank. Die eigene Mutter in einem Schimanski-"Tatort" von Dominik Graf - das macht in gewissen Kreisen schon Eindruck.
Mehr Achtziger geht nicht
Den Abgang machte Schimanski, Kinofilme eingerechnet, nach 29 Folgen. Und was für einen: Am Ende von "Der Fall Schimanski" segelt er mit dem Drachen über Duisburgs Kulisse, dazu röhrt Bonnie Tyler "Against the Wind", und der Haudrauf vom Dienst brüllt ein letztes "Scheiße". Auch wenn das Finale 1991 lief, mehr Achtziger geht nicht - erst jetzt war das Jahrzehnt wirklich vorbei.
Und was der Schimmi-"Tatort" für Musik hervorgebracht hat: neben Bonnie Tyler etwa Chris Norman ("Midnight Lady"), Klaus Lage ("Faust auf Faust") oder Bolland & Bolland ("Tears of Ice"), die auch Falcos "Rock Me Amadeus" produzierten. Dieter Bohlen machte für "Moltke" die Musik und übernahm dazu eine Nebenrolle. Selbst das hat die Reihe überlebt.
Schimanski kam 1997 mit der gleichnamigen Serie zurück, es waren auch gute Folgen dabei. Aber über allem weht der Hauch von Nostalgie, nicht nur bei Schimmis Auto. Und aus Kostengründen wurde meist in Köln gedreht, höchstens mal eine Szene in Duisburg-Ruhrort. Wo ich später fünf Jahre meines Lebens verbrachte und wo heute stets ausgebuchte "Schimmi-Touren" angeboten werden, wahlweise mit oder ohne Currywurst.
Nachdem 1992 ein Juso-Antrag scheiterte, die Duisburger Uni nach Schimmi zu benennen, gibt es seit 2014 wenigstens eine Horst-Schimanski-Gasse in Ruhrort. Ein Hauch von "Tatort" weht also noch durch die Straßen. Und man kann sich ein wenig vorstellen, wie es war, damals vor 35 Jahren, als er zum ersten Mal "Scheiße!" schrie.
Dirk Brichzi (1974 in Dinslaken geboren) hat die ersten 29 Jahre seines Lebens in Duisburg verbracht und ist auch in Zeiten des selbst gewählten Exils in deutschen Großstädten immer wieder gern in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Schimanski guckt er sich noch oft an, manchmal einfach nur deshalb, weil er mal wieder einen richtig guten "Tatort" schauen will.