Die albanische Journalistin Erjona Rusi steht wieder an einer Bushaltestelle, irgendwo am Stadtrand von Tirana. Für eine Recherche versucht sie, mit Näherinnen einer Textilfabrik ins Gespräch zu kommen. Nach Ende der Schicht verlassen sie in Scharen das Gebäude und fahren mit dem Bus nach Hause. „Ich gehe nicht direkt zur Fabrik, dort würden die Frauen nie offen mit mir sprechen", sagt Rusi.
In Albanien, am Rande Europas, wird fleißig für den europäischen Markt produziert. Die Textilbranche ist neben der Landwirtschaft der wichtigste Wirtschaftssektor des Landes. 20 Prozent der Bevölkerung sind hier beschäftigt. Wenn die T-Shirts und Schuhe in den Fashionboutiquen Westeuropas landen, steht dann oft „Made in EU" darauf. Ein Label, das zunächst nach guten Arbeitsbedingungen für die Näherinnen und fairen Löhnen klingt. Doch die Realität in den Fabriken sieht oft anders aus.
Das hat Bettina Musiolek für die Studie Labour on a Shoestring herausgefunden. Sie leitet das EineWeltBüro in Sachsen und ist Mitbegründerin der deutschen Clean Clothes Campaign, welche sich unter anderem für bessere Arbeits- und Produktionsbedingungen in der osteuropäischen Textilindustrie engagiert. In den Fabriken herrschen oft unzumutbare Arbeitsbedingungen. Dicht gedrängt sitzen die Arbeiterinnen an den Nähmaschinen. Die Luft ist stickig; im Sommer ist es oft unerträglich heiß, im Winter fehlen die Heizungen. Meist tragen die Näherinnen keine Handschuhe oder Atemmasken. Die würden zwar vor den Chemikalien schützen, sie aber erheblich bei der Arbeit behindern. Viele Frauen leiden daher unter Kopfschmerzen, Allergien oder Hautproblemen. All das haben Erjona Rusi und das Team von Bettina Musiolek in persönlichen Gesprächen mit den Näherinnen erfahren.
Von der Arbeit unter diesen harten Bedingungen können viele Näherinnen noch nicht einmal leben. Der Mindestlohn ist in Albanien mit 140 Euro Netto im Monat an sich schon niedrig und deckt laut der Studie Labour on a Shoestring nur 24 Prozent des Bedarfs einer vierköpfigen Familie. Aber in vielen Fällen erhalten die Arbeiterinnen nicht einmal diesen. Der Verdienst einer albanischen Näherin liegt somit im Schnitt unter dem einer chinesischen. Neben der Arbeit in der Fabrik bewirtschaften deshalb viele noch ein eigenes Feld, auf dem sie Gemüse für den Eigenbedarf anbauen.
Heute war Erjona Rusi nicht erfolgreich - keine der Arbeiterinnen wollte mit ihr sprechen. Viele von ihnen sind eingeschüchtert und wollen in der Öffentlichkeit nicht von ihrer Situation erzählen. Denn gerade Frauen sind auf die Jobs in den Textilfabriken angewiesen. Für sie gibt es in vielen Gegenden kaum Alternativen - die Arbeitslosigkeit in Albanien liegt bei etwa 15 Prozent.
ist ursprünglich eine Herkunftsbezeichnung für Produkte aus der Europäischen Union gewesen, die 2003 von der EU-Kommission vorgeschlagen wurde. 2014 war geplant, das Label verpflichtend für alle EU-Länder zu etablieren. Doch die Richtlinie wurde unter anderem von Deutschland blockiert, sodass es nicht zur einheitlichen Belabelung kam. Derzeit können europäische Unternehmen auf freiwilliger Basis und anstelle einer expliziten Länderkennzeichnung, ihre Produkte auch mit dem EU-Siegel auszeichnen.
Albanien ist kein Mitgliedsstaat der EU, sondern seit 2014 lediglich ein Beitrittskandidat. Trotzdem wird innerhalb Albaniens oft für europäische Modeunternehmen produziert.
„Solange Albanien nicht volles Mitglied der EU ist, können Produkte oder Waren, die dort hergestellt werden, nicht mit „Made in EU" gekennzeichnet werden", sagt Alceo Smerilli, Pressesprecher der Europäischen Kommission für Europäische Nachbarschaftspolitik und EU-Beitrittsverhandlungen.
Diese eigentlich klare Regelung umgehen jedoch viele internationale Textilunternehmen. Sie produzieren in mehreren Ländern und verschleiern durch vielschichtige, oft intransparente Prozesse wo und wie sie Klamotten für den europäischen Markt produzieren. Unternehmen gehen dabei oft folgendermaßen vor:
„Viele der Unternehmen lagern einen Teil der Produktion beispielsweise nach Albanien aus. Oft wird nur der letzte Fertigungsschritt in einem EU-Land gemacht - beispielsweise in Italien", sagt Bettina Musiolek.
Auf diese Weise werde eine Kennzeichnung mit „Made in EU" oder auch „Made in Italy" möglich, so Musiolek. Ein Unternehmen, von dem sie vermutet, dass es so arbeitet, ist beispielsweise Zalando. Auf mehrere Anfragen reagierte das Unternehmen allerdings nicht.
Die komplexen Lieferketten haben vor allem für die albanischen Näherinnen negative Auswirkungen, wie Musiolek im Video erklärt:
Trotz der schlechten Arbeitsbedingungen in den Fabriken ist Albanien auf die Textilbranche angewiesen. Das liegt auch an der historischen Bedeutung des Sektors: Industrie wurde zu kommunistischen Zeiten massiv ausgebaut, so Dr. Dhimiter Doka von der Universität Tirana. „Unter dem Motto 'mit aller Kraft für Albanien' spielte die Textilindustrie eine große Rolle für das Land", so Doka. Gelenkt wurde alles vom Staat, die Arbeiterinnen wurden nicht besser oder schlechter bezahlt als in anderen Industriezweigen. Von Generation zu Generation wurde das Know-How weitergegeben.
Als 1990 in Albanien der Kommunismus zusammenbrach, wandelte sich auch die Wirtschaft tiefgreifend. Ein riesiger, aber veralteter Textilbereich stand einer geringen Nachfrage entgegen. Mitte der 90er Jahre bricht die Textilproduktion vollends zusammen und erholt sich erst zu Beginn der 2000er Jahre. An das Lohnniveau aus Kommunismus-Zeiten können die neu strukturierten Wirtschaftszweige allerdings nicht anknüpfen.
Heute arbeitet immer noch ein großer Teil der Bevölkerung im Textilsektor. Verlieren wollen die Albanerinnen ihre Jobs unter keinen Umständen, betont die albanische Journalistin Erjona Rusi auf der Bildkorrekturen-Konferenz im November. Zum einen fände man aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage kaum Jobs, zum anderen sei der Textilbereich für viele Arbeiterinnen trotz der schlechten Arbeitsbedingungen nach wie vor die einzige Option. Deshalb wolle keiner, dass sich die ausländische Textilindustrie zurückzieht, lediglich die Bedingungen sollen sich für die Arbeitenden zum Positiven verändern.
Damit das geschehen kann, muss sich jedoch auf vielen Ebenen etwas verändern, weiß Bettina Musiolek. Sie sieht die größte Verantwortung bei den Unternehmen. Diese müssten für bessere Arbeitsbedingungen und fairere Löhne sorgen. Aber auch Verbraucher sollten anfangen, in den Modegeschäften nachzufragen, woher die Kleidung komme.
Die EU schiebt indes die Verantwortung von sich: Staaten, die Mitglied der EU werden wollen, seien verpflichtet ihre Rechtsvorschriften an die der EU anzugleichen, so Smerilli. Doch auf politischer Landesebene werden oft keine Entscheidungen getroffen, um potentielle Industriepartner nicht abzuschrecken.
Fest steht: Alle Akteure sind mitverantwortlich für die derzeitige Situation in den Textilfabriken Albaniens. Nur bei den Leidtragenden lässt sich eine klare Feststellung machen - das sind die albanischen Näherinnen.