1 abonnement et 0 abonnés
Article

Trendforscher: "Männer warten, bis jeder mit der gleichen Hose herumläuft"

ZEIT ONLINE: Herr Sanderson, braucht man Selbstbewusstsein um die Zukunft vorauszusagen?

Christopher Sanderson: Nein, das hat damit nichts zu tun. Es ist eine Fähigkeit zu verstehen, wie man Tendenzen herausfiltern kann, um ein präzises Urteil zu fällen. In der Regel achten die Menschen auf Gemeinsamkeiten. Für mich zählen die Unterschiede.

ZEIT ONLINE: Papierlose Büros, fliegende Autos - werden Zukunftsprophezeiungen nicht immer wiederlegt?

Christopher Sanderson

Christopher Sanderson, 44 Jahre, gründete 2001 gemeinsam mit Martin Raymond The Future Laboratory in London, das rund 50 Mitarbeiter beschäftigt und Unternehmen wie Louis Vuitton, BMW oder HSBC berät. Davor war er Kommunikationschef eines internationalen Modeunternehmens. Sanderson unterrichtet an der University of Arts in London und ist Fernsehmoderator.

Sanderson: Der amerikanische Denker William Gibson sagt: "Die Zukunft ist schon passiert. Aber nicht jeder hat Zugriff darauf." Das stimmt. Alles was morgen passieren wird, geschieht bereits jetzt. Es ist nur noch nicht greifbar oder gedeutet. Die Zukunft findet in Nischen statt, nicht im Mainstream. Die meisten Menschen fühlen sich wohl, wenn sie sich in der Masse bewegen. Jeans für Männer sind ein interessantes Beispiel: Der Geschmack wechselt alle drei bis fünf Jahre, nicht jede Saison. Männer warten, bis jeder mit der gleichen Hose herumläuft und lassen sich von der Masse leiten. Ansonsten fühlen sie sich doof. Aber eine Gruppe von Menschen handelt immer anders als die meisten und so erkenne ich, wo ein Wechsel stattfindet.

ZEIT ONLINE: Und wo finden die Wechsel statt?

Sanderson: Es gibt in jeder Gesellschaft Meinungsmacher, die mit einem geschärften Sinn Kontraste aufnehmen. Es gibt Orte, wo die Konzentration solcher Menschen höher ist. Wer nach einem Wandel sucht, findet ihn sicher nicht in Mannheim, sondern muss nach Berlin oder London.

ZEIT ONLINE: Weil man dort auf diejenigen trifft, die wissen, was hip oder cool ist?

Sanderson: Ein Vordenker spürt dort Anerkennung, kann Verbindungen eingehen und wird in seinem Handeln unterstützt, ja. Trends ergeben sich allerdings nicht nur in der Mode oder dem Design, sondern auch im Hinblick auf Essen, Architektur, in der Kunst. Eine gute Idee wächst, indem sie Anhänger findet. Aber ich habe ein Problem mit diesen Wörtern - hip und cool.

ZEIT ONLINE: Warum?

Sanderson: Was wir hier machen, ist nicht hip oder cool. Wir beschäftigen uns nicht damit, wie lang oder eng ein Rock sein darf, sondern mit gesellschaftlichen Entwicklungen. In den vergangenen Jahren habe ich meinen Kunden versucht zu erklären, welche Auswirkungen die Frau auf das 21. Jahrhundert hat. Unternehmen werden von Männern dominiert - wie sollen die Firmen verstehen, wie sie Frauen als Konsumenten gewinnen können? Noch ein Beispiel: Die Konsumenten in der westlichen Welt werden in Zukunft weniger Geld ausgeben. Darauf müssen sich Unternehmen vorbereiten.

ZEIT ONLINE: Was bedeuten würde, dass irgendwann wieder weniger Menschen Geld für Louis-Vuitton-Taschen ausgeben. Für Sie und Ihre Klienten eine Katastrophe

Sanderson: Nicht für mich, ich mache keine Produkte, sondern predige seit Jahren: Wacht auf, ein neues Zeitalter bricht an! Es wird kein Wachstum mehr geben! Die Gesellschaft denkt um. Jetzt erst kommen die Kunden und fragen: Wie war das mit dem ethischen Konsum? Wir investieren sehr viel Zeit, ihnen den Wechsel zu erklären. Sie verstehen es nur sehr schwer.

ZEIT ONLINE: Schon heute tragen Menschen, die monatlich 10.000 Euro verdienen, abgewetzte Strickjacken vom Flohmarkt. Warum?

Sanderson: Altes Handwerk, Vererbtes und hochwertige Materialien sind wieder gefragt. Im Englischen spricht man von Revivalism. Auf einem Flohmarkt einzukaufen ist ein klares Statement. Es zeigt, dass wir etwas Individuelles suchen. Modemarken kopieren diesen Secondhand-Stil bereits. Martin Margiela entwirft zum Beispiel Hemden, die exakt so anmuten wie die vom Flohmarkt, nur kosten sie 400 Euro.

ZEIT ONLINE: Junge Menschen investieren viel Zeit und Geld, um Gemüse auf den Dächern von New York anzubauen und nennen das Urban Farming, obwohl sie Möhren und Äpfel auch bequem und günstig im Supermarkt erhalten. Auch nur Lifestyle?

Sanderson: Unsere Gesellschaft muss dringend überdenken, wie sie künftig frisches Gemüse und Früchte auf ihre Teller bringt. Das ist kein Lifestyle! Die Vereinten Nationen sagen, dass die Kosten für Lebensmittel in den nächsten Jahren um 40 Prozent steigen werden. Der westliche Standard wird zum ersten Mal seit 50 Jahren einbrechen.

Rétablir l'original