2013 beschließt das mexikanische Parlament eine umfassende Bildungsreform. Die mitgliederstarke Lehrergewerkschaft wehrt sich. Am 19. Juni 2016 eskalieren die Proteste in Noxichtlán, einer Kleinstadt im südlichen Bundesstaat Oaxaca. Wir haben einen Monat, drei Monate und ein halbes Jahr nach den Ereignissen mit Philipp Gerber darüber gesprochen. Der Ethnologe arbeitet für die Organisation medico international Schweiz, die sich in Mexiko für eine bessere Basisgesundheit einsetzt. Sie arbeitet zudem mit lokalen Hilfsorganisationen zusammen, die sich u. a. um die Opfer von Folter und Gewalt kümmern.
Was ist am 19. Juni 2016 genau geschehen?
Man muss vorwegschicken, dass zu den Ereignissen vom 19. Juni 2016 unterschiedliche Versionen kursieren. Was bisher klar ist: An jenem Sonntag hat die Polizei um 8 Uhr morgens mit gut 500 Mann die Blockade der Autobahn bei Nochixtlán aufgehoben und dabei Tränengas gegen die etwa 150 Protestierenden eingesetzt. Nach etwa 10, 15 Minuten war die Blockade geräumt.
Dann hat sie das Dorf Nochixtlán angegriffen, das etwa 500 Meter abseits der Autobahnblockade liegt. Die Nachricht hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet und innerhalb einer halben Stunde stand die Polizei nicht mehr nur 150, sondern 2.000 Menschen gegenüber - nicht nur Lehrern, sondern breite Bevölkerungsschichten. Weil Markttag war, waren zu diesem Zeitpunkt auch viele Menschen aus Nachbargemeinden dort. Dann ist die Situation eskaliert, und um 9 Uhr morgens ist der erste Zivilist durch eine Kugel getötet worden.
Vermutlich von der Polizei, aber die genaue Untersuchung steht noch aus. Die Polizei behauptete zuerst, sie sei ohne Waffen vor Ort gewesen. Später hat sie zugegeben, dass doch die Gendarmerie, also Spezialeinheiten, dort mit Waffen operierte. Die Staatsanwaltschaft untersucht jetzt, welche der 100 Waffen eingesetzt wurden, die die Polizei dabeihatte.
Die Situation ist weiter unkontrolliert geblieben, es gab also keine polizeilich-militärische Lösung. Um drei Uhr nachmittags, also nach sieben Stunden, sind die Polizeieinheiten weitergefahren Richtung Oaxaca-Stadt. Dort auf dem Hauptplatz befand sich das Lehrercamp, also das Zentrum des Protests. Auf den ersten Kilometern stadteinwärts trafen sie jedoch auf massiven Widerstand, rund 50 brennende Barrikaden gab es dort. Die haben sie geräumt, ebenfalls mit Schusswaffeneinsatz. Hubschrauber haben die Protestierenden mit Tränengas beschossen, auch ein improvisiertes Spital unter Feuer genommen. Diese Operation hat insgesamt 15 Stunden gedauert - und im Grunde hat sie - außer Toten und Verletzten - nichts gebracht. Denn die Proteste gehen weiter.
Die eigentliche Aufarbeitung der Ereignisse steht noch aus.
Ist dafür schon jemand zur Verantwortung gezogen worden?
Nein, die eigentliche Aufarbeitung ist noch nicht geschehen - das ist in Mexiko ja immer schwierig. Die Polizei behauptete sogar, dass sie ihrerseits von der Zivilbevölkerung mit Schusswaffen angegriffen worden sei.
Soweit bisher bekannt ist, waren alle Getöteten und Verletzten auf Seiten der Bevölkerung, nicht bei der Polizei. Viele der Verletzten haben zudem große Angst vor politischer Verfolgung und haben sich deshalb nicht in Krankenhäusern behandeln lassen.
Die Einwohner von Noxichtlán sind zunächst einmal traumatisiert, sie sind geschockt über die Brutalität dieses Tages. Viele wurden im Schlaf überrascht, auch Kinder wurden mit Tränengas attackiert. Auch das hat die Polizei zunächst bestritten, aber die Krankenhäuser haben inzwischen bestätigt, dass Tränengas eingesetzt wurde.
Besonders tragisch ist, dass es offenbar erst soweit kommen musste, bis das Innenministerium die Verhandlungen über die Bildungsreform wieder aufgenommen hat, und zwar mit der Gemeinde Noxichtlán und der Lehrergewerkschaft - eine Debatte über die Reformpläne war vor der Eskalation eine der zentralen Forderungen der Gewerkschaften gewesen. Die eigentliche Aufarbeitung der Ereignisse steht aber noch aus.
2013 hat das mexikanische Parlament ein umfassendes Strukturanpassungsprogramm beschlossen. Dazu gehört auch eine Bildungsreform. Sie sieht vor, dass sich alle Lehrerinnen und Lehrer einer Evaluation unterziehen müssen. Vor allem daran haben sich die Proteste entzündet und intensiviert. Denn wer sich der Evaluation verweigert oder nicht besteht, soll entlassen werden. Deshalb haben sich viele Gemeinden und zivilgesellschaftliche Organisationen mit der Lehrergewerkschaft solidarisiert.
Die drohende Entlassung hängt wie ein Damoklesschwert über den Lehrern und dagegen setzen sie sich zur Wehr.
Ein Problem der Reform ist, dass sie alle über einen Kamm schert. Mexiko ist sehr ungleich, die Unterschiede zwischen dem Norden und dem vorwiegend indigenen Süden sind sehr groß. Allein in Oaxaca gehören etwa 40 bis 50 Prozent der 3,5 Millionen Einwohner zum indigenen Teil der Bevölkerung. Es gibt 16 verschiedenen Kulturen und Sprachen.
Die Lehrer haben hier teilweise selbst noch nie an einem Computer gearbeitet, sollen ihn aber für den Multiple-Choice-Test der Evaluation benutzen. Die drohende Entlassung hängt wie ein Damoklesschwert über ihnen und dagegen setzen sie sich zur Wehr. Die Frage ist auch, ob es überhaupt sinnvoll ist, bei der Reform bei den Lehrern anzusetzen...
Ein Professor hat die Situation mit einem schönen Vergleich beschrieben: Das Bildungssystem in Mexiko sei wie ein alter Schulbus mit kaputten Fensterscheiben, der kaum einen kleinen Hügel hinaufkommt. Die Regierung behaupte nun mit der Bildungsreform, man müsse einfach die Busfahrer - also die Lehrer - besser ausbilden und schon fährt der Bus wieder. Es gibt aber noch einen weiteren Kritikpunkt.
Der Vorschlag für die Bildungsreform kam nicht von Erziehungswissenschaftlern oder aus dem Bildungsministerium, sondern von einer Organisation namens „Mexicanos Primero". Sie wurde von Unternehmen gegründet und will das Bildungswesen weitgehend privatisieren. Die Evaluationen etwa führt das private Instituto Nacional para la Evaluación Educativa (INEE) durch, also das Institut für die Evaluation der Bildung - und das verdient an den Tests. „Mexicanos Primero" macht zudem massiv Stimmung gegen die Lehrer. Vor allem gegen die der oppositionellen Gewerkschaft CNTE.
Lehrerinnen und Lehrer sind automatisch Mitglieder in der Lehrereinheitsgewerkschaft SNTE. Die „gelbe" Gewerkschaft ist mit mehr als einer Million Mitgliedern die größte Gewerkschaft Lateinamerikas. Etwa ein Fünftel der Mitglieder zählen zur oppositionellen CNTE. Zu ihr gehört auch die Sektion 22 im Bundesstaat Oaxaca, die die Proteste hier hauptsächlich trägt.
Wie überall in Mexiko ist Korruption auch bei der Sektion 22 ein Problem. Allerdings längst nicht in dem Ausmaß, wie die Medien und eben „Mexicanos Primero" uns glauben machen wollen. Wir lesen und hören beinahe täglich von den „mafiösen Strukturen" der CNTE. Angesichts der massiven Kriminalisierungsversuche ist der starke Rückhalt, den sie in der Bevölkerung hat, schon fast unglaublich.