Bei keiner anderen Sportart wird so viel gesungen, gepfiffen und geschrien wie beim Fußball. Warum hat gerade der Fußball einen besonderen Sound? Gunnar Leue, Kurator der Ausstellung „Der Sound des Fußballs“, erklärt es.
Gunnar Leue, in den vergangenen Monaten war es sehr ruhig in den Stadien. Warum haben Sie gerade jetzt eine Ausstellung und eine Vinyl zum „Sound des Fußballs" veröffentlicht?
Hier und da schallten ja ein paar Vereinshymnen und Lieder durch die Boxen in den leeren Stadien, doch die Pandemie hat paradoxerweise am schönsten offenbart, was die Faszination und den „Sound des Fußballs" am meisten ausmacht: Die Fans. Ohne Gejubel, Schreie, Pfiffe und Gesänge aus den Kurven ist noch einmal deutlich geworden, wie wichtig volle Zuschauerränge beim Fußball sind. Ohne die Fans haben viele gemerkt, wie trist ein Fußballspiel ohne das typische Begleitrauschen werden kann. Mit der Ausstellung „Der Sound des Fußballs" und der Union Berlin - Vinyl „Eisern Union" möchte ich hervorheben, dass die Fans beim Fußball niemand ersetzen kann. Auch wenn ich bei Union trotz der leeren Stadien in Pandemiezeiten einige lustige Begleiterscheinungen erlebt habe.
... die da wären?
Die Gesänge von Fußballfans sind auch in Zeiten der Pandemie nicht gänzlich verstummt: In der vergangenen Saison haben wir das Heimspiel von Union gegen Mainz 05 in der „Union Tanke" geschaut, weil in der Coronazeit nur knapp 5000 Fans im Stadion an der alten Försterei zugelassen waren. Weil das Spiel bei einem für uns ungewohnten Streaminganbieter gezeigt wurde, musste ein Union-Fan sein privates Handy mit dem großen Bildschirm verbinden. Das Ergebnis: In einer Tour flatterten private Nachrichten über den Bildschirm, unter anderem Dating-Nachrichten von einer gewissen Henriette. Wenige Minuten später grölte die halbe „Union Tanke" ganz nach Rudi Völler „Es gibt nur ein Henriette". Die Union-Fans waren schon immer gut darin, spontan Gesänge auszudenken.
„Diese spontanen, kreativen Fangesänge finde ich einfach großartig, sie machen für mich den ‚Sound des Fußballs' aus."
Vermutlich geht es dabei aber häufiger um den Fußball und den Verein als um irgendwelche Dating-Bekannschaften.
Um mal ein Beispiel aus einem vollen Stadion vor Pandemiezeiten zu nennen, das mir ein befreundeter Unioner erzählte. Als er auf einer Auswärtsfahrt in Cottbus war, lief in der Halbzeit ganz schreckliche Popmusik in Dauerschleife. Es klang wie auf einer Kirmes und nicht wie in einem Fußballstadion. Die Musik ging den Fans so auf die Nerven, dass sie die Melodie eines dieser Kirmes-Songs in der zweiten Halbzeit ironisch übernommen haben, um ein eigenes Lied zu dichten. Daraus ist dann ein Union-Fangesang entstanden, der noch heute ein anerkannter Chant im Stadion ist. Diese spontanen, kreativen Fangesänge finde ich einfach großartig, sie machen für mich den „Sound des Fußballs" aus.
Gibt es typische Wege, auf denen Lieder und Melodien ihren Weg in die Kurven finden?
Historisch gesehen ist der Klassiker, dass Lieder, die im Stadion gesungen werden, einfach aus dem Pop adaptiert werden. Schon in den sechziger Jahren haben die Fans des FC Liverpool Songs der Beatles wie „She loves you" auf den Tribünen an der Anfield Road gesungen. Heutzutage werden in den Stadien ja vor allem Lieder und Gesänge geschmettert, die direkt in den Fankurve entstehen. Wenn sich zum Beispiel Ultragruppen zusammensetzen und sich Texte und Melodien für neue Gesänge ausdenken. Oder eben Fangesänge, die in den skurrilsten Situationen spontan entstehen.
Nun gibt es neben Gesängen aus den Fankurven auch Lieder über den Fußball, die professionell im Tonstudio aufgenommen und produziert werden. Man erinnert sich da häufig an frühere deutsche Nationalspieler, die im Tonstudio stehen und den neuesten WM-Song einsingen...
... die Fans sind wichtige Akteure in der Ausstellung „Sound des Fußballs", prägen ihn aber nicht allein. Schon seit vielen Jahrzehnten wird der Fußball von einer Begleitmusik umgeben, egal ob im Fernsehen, dem Radio oder heutzutage im Internet. In Vereinshymnen, Popsongs oder Liedern von Nationalspielern vor großen Turnieren wird schon seit langer Zeit um und über den Fußball gesungen - mal mehr und mal weniger peinlich. Ich beschreibe den „Sound des Fußballs" immer als Mix aus dieser Begleitmusik und den Geräuschen, Gesängen und Geschrei aus den Stadien.
Warum haben gerade der Fußball und Musik so eine besondere Beziehung?
Einerseits hat das was mit der Tradition und Historie des Sports zu tun. Die Affinität zum Pop ist ja genau wie der Fußball vor allem aus England gekommen. Natürlich wurde auch in anderen Ländern schon seit langer Zeit beim und über den Fußball gesungen, auf der Insel ist das Ganze aber schon sehr früh entstanden. Eine andere Erklärung ist, dass der Fußball ein Spiel ist, bei dem Musik und Gesang einfach gut funktionieren. Bei total langweiligen, grottenschlechten Spielen können sich die Fans die Zeit gut mit Liedern und Gesang vertreiben, auch Alkohol spielt bei der Kreativität und Lautstärke der Fangesänge mit Sicherheit eine Rolle. Bei anderen Sportarten wie beispielsweise dem Handball oder Basketball geht es ja viel schneller hin und her. Bei den ganzen Aktionen bleibt da kaum Zeit, um großartig zu singen.
Sie haben nun auch das Vinylalbum „Eisern Union“ veröffentlicht, auf dem Sie Fußballsounds rund um Union Berlin gesammelt haben. Auf der Platte finden sich neben bekannten Union-Songs auch Gesänge und Geräusche aus dem Stadion an der alten Försterei wieder. Gibt es einen besonderen „Sound of Köpenick“?
Im Stadionheft von Union befasse ich mich schon seit längerer Zeit mit dem „Sound des Fußballs“, deshalb wollte ich die besten Union-Sounds einfach mal auf einer Vinyl sammeln. Es ist so: Auch bei anderen Vereinen gibt es eine hohe Affinität zu Musik und Gesang. In ganz Deutschland wird in den Fankurven gesungen, geschrien und gepfiffen, auch von anderen Vereinen wurden in den vergangenen Jahren Fußball-CDs und Vinyls veröffentlicht. Werder Bremen hat zum Beispiel zum Vereinsjubiläum vor einigen Jahren eine eigene Platte mit Liedern über den Verein veröffentlicht. Union Berlin hat da also kein Alleinstellungsmerkmal. Insgesamt ist Union aber ein Verein, bei dem Musik und Gesang immer schon eine sehr große Rolle gespielt haben. Durch die vielen Stehplätze im Stadion An der alten Försterei wurde schon immer laut und viel gesungen, im Stadion werden nicht Helene Fischer oder die neuesten Chartsongs, sondern vielfältige Musik von Black Sabbath bis Eminem gespielt. Auch für das legendäre Weihnachtssingen ist Union natürlich bekannt.
Welche Union-Sounds haben Sie auf der Platte gesammelt?
Das Schöne bei Union ist, dass es bei den Vereinsliedern eine große Bandbreite gibt. Es finden sich auf der Vinyl neben punkigem Zeug auch poppige Lieder wieder, die Hymne von Nina Hagen und vor allem die Fan-Atmosphäre dürfen natürlich auch nicht fehlen. Passend zu den Vereinsfarben ist die Vinyl rot eingefärbt, auf dem Klappcover – das mein Sohn, auch ein Unionfan, gestaltet hat – finden sich die schönsten Fanmotive aus den letzten Jahrzehnten von Union wieder.
Neben der Vinyl haben Sie die Ausstellung „Der Sound des Fußballs“ im Rathaus Köpenick vorgestellt. Was erwartet die Besucher auf der Ausstellung?
Die Ausstellung beginnt mit einem geschichtlichen Abriss, wie alles begann mit dem Fußball und der Musik. Weiter geht es um Vereinshymnen, singende Fußballer, Lieder über den Fußball und auch die Rolle von Frauen in der Welt der Fußballsounds. Weil die Ausstellung als erstes in Köpenick startet, gibt es dort auch einen Sonderteil zu Union Berlin. Es ist angedacht, dass „Der Sound des Fußballs“ zu einer Wanderausstellung wird, mit der ich in die bedeutendsten Fußballregionen Deutschlands reisen möchte. Im Ruhrgebiet würde es dann zum Beispiel einen Sonderteil zu Fußballsounds im Ruhrgebiet geben, in Hamburg einen zu Fußballsounds in Norddeutschland. Ich bin mir sicher, der „Sound des Fußballs“ erschallt in allen Regionen Deutschlands, egal ob in den großen Stadien oder auf dem Bolzplatz nebenan.