Paulinah Rasekqotoma hat sich für den zweiten Automaten von links entschieden. Sie tippt auf den Bildschirm und nimmt einen Telefonhörer aus der Wandhalterung. „Sie sprechen mit Johanna“, sagt die Frauenstimme am anderen Ende. „Ich helfe Ihnen dabei, Ihre Medikamente zu bekommen.“ Ein paar Fragen, ein paar Antworten, dann rumpeln Schachteln mit Tabletten ins Ausgabefach. Damit ist die 46-Jährige für die nächsten zwei Monate mit HIV-Medikamenten versorgt. „Es ist kinderleicht, wie am Geldautomaten“, sagt Paulinah. Mit Hightech-Apotheken wie dieser in Johannesburgs Armenviertel Alexandra beginnt in Südafrika ein neues Kapitel der HIV-Bekämpfung.
Südafrika ist das Land mit den meisten HIV-Fällen - jeder fünfte HIV-Positive weltweit lebt dort; 2016 waren es insgesamt 7,1 Millionen, 12,8 Prozent der Bevölkerung. Seit 2004 finanziert Südafrika seinen Bürgern die sogenannte antiretrovirale Therapie (ART), die eine Aids-Erkrankung beträchtlich hinauszögern und mit der HIV-positive Menschen ein weitgehend normales Leben führen können. Allerdings erhalten bislang erst 56 Prozent der Infizierten die Medikamente. Damit ist Südafrika weit entfernt von der 90-90-90-Strategie der Vereinten Nationen: Bis 2020 sollen 90 Prozent der HIV-Infizierten über ihren Status Bescheid wissen, 90 Prozent von ihnen sollen in Behandlung sein, und bei wiederum 90 Prozent aus dieser Gruppe soll die Viruslast dauerhaft stark reduziert werden. Rechnerisch sollen bald also 81 Prozent aller HIV-Positiven Medikamente erhalten. Bei keiner anderen Zielvorgabe ist Südafrikas Nachholbedarf so groß. Auf dem Land müssen die Menschen oft weite Wege zu den Ausgabestellen in Kauf nehmen, in den Städten müssen sie stundenlang anstehen, bevor sie an der Reihe sind. Weil Apotheken und HIV-Kliniken üblicherweise nur zu normalen Arbeitszeiten geöffnet sind, müssen viele Berufstätige regelmäßig einen Tag Urlaub nehmen, um Nachschub zu holen. In den Ballungszentren werden also leistungsfähige Ausgabestellen mit langen Öffnungszeiten benötigt. Diese Lücke sollen die Apotheken-Automaten schließen.
Die Idee dazu stammt aus dem Jahr 2010, fünf Jahre später begann die Arbeit am ersten Prototyp. Das arme Township Alexandra mit etwa 30000 chronisch kranken Bewohnern, die dauerhaft Medikamente benötigen, wurde als Standort für die weltweit erste vollautomatische Apotheke ausgewählt. 2017 ist sie in Betrieb gegangen. In diesem Jahr folgten zwei Filialen in der Johannesburger Trabantenstadt Soweto. Die Automaten sind in einer strategischen Allianz südafrikanischer und deutscher Partner entstanden: Betrieben werden sie von der südafrikanischen Right ePharmacy, an der Entwicklung waren die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und das Bochumer Unternehmen MACH4 beteiligt, das auf Automatisierungstechnik spezialisiert ist. Zusätzliches Kapital kommt von USAid, der Stadt Johannesburg und dem südafrikanischen Staat. Der Gesundheitsapparat leidet stark unter Personalmangel – deshalb gefährden die Automaten auch keine Arbeitsplätze.
Tafirenyika Chinamhora leitet die Filiale in Alexandra. Er öffnet die Tür zum Herzstück der Anlage: dem Raum direkt hinter dem Kundenbereich, in dem vier Apparate an der Rückseite der Kundenterminals die Medikamente bereitstellen. „Die Einheiten brauchen 60 Prozent weniger Platz als herkömmliche Apotheken, jede Maschine fasst je nach Größe etwa 600 Artikel“, sagt Chinamhora. Jeder Automat kostet etwa zwei Millionen Rand, das sind umgerechnet rund 125000 Euro. Viel Geld in einem Land, in dem mehr als jedem zweiten Einwohner weniger als 2,75 Euro am Tag zum Leben zur Verfügung stehen. „Der erste Besuch hier ist eine ganz neue Erfahrung. Es überwältigt dich“, sagt Apotheker Tafirenyika Chinamhora. Für den aktuellen Monat rechnet er mit 3178 Kunden in seiner Filiale. Die Zahl kann er deshalb so genau vorherbestimmen, weil jeder Kunde in der digitalen Datenbank geführt und per SMS erinnert wird, bevor die nächste Dosis fällig ist. Sobald neue Kunden am Schalter nebenan ihre Daten angegeben haben, können sie sich mit ihrer Kundenkarte am Automaten ausweisen. Dann wird per Videotelefonie ein Apotheker aus dem zentralen Callcenter für alle Standorte zugeschaltet. Für erfahrene Patienten könnte das Telefonat irgendwann optional werden, glaubt Chinamhora.
Ist alles in Ordnung, wird im Automaten ein Packung gegriffen, über eine Rutsche gelangt sie zu einer Maschine, die erst den Barcode überprüft und anschließend ein Etikett mit dem Namen des Kunden und den Einnahmehinweisen des Medikaments beklebt. Dann landet die Schachtel im Entnahmefach.
Für jedes Medikament braucht der Automat nur vier Sekunden, so schafft er 900 Artikel pro Stunde. Ein weiterer Vorteil sind die Öffnungszeiten: Die Filiale in Alexandra ist an jedem Wochentag geöffnet, bei steigender Nachfrage wäre sogar ein 24-Stunden-Betrieb möglich. Die deutschen Entwicklungshelfer der GIZ bewerten das Projekt daher „sehr positiv“; von der Anzahl der Patienten über deren Zufriedenheit bis hin zur schnelleren und flexibleren Versorgung chronisch Kranker und einer Entlastung der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Vermutlich könnte das Konzept in anderen Weltregionen ähnlich gut funktionieren.