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Schach steht für Überleben und Gefängnis

1943 erschien Stefan Zweigs „Schach­no­velle“, die der Schrift­stel­ler in den Jahren zuvor im brasi­lia­ni­schen Exil geschrie­ben hatte. Als Jude und beken­nen­der Pazi­fist war Zweig in mehr­fa­cher Hinsicht der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verfol­gung ausge­setzt, 1938 ging er zunächst nach Groß­bri­tan­nien, dann nach Brasi­lien. Das Schach­spiel entfal­tet in dieser auto­bio­gra­fisch gepräg­ten Erzäh­lung eine Doppelb­e­deu­tung: Es ist dem Prot­ago­nis­ten will­kom­me­nes Spiel, im Sinne einer eska­pis­ti­schen Ablen­kung vom blan­ken Grauen, und zugleich Gefäng­nis, das ihn immer weiter in den Wahn­sinn treibt. Als soge­nannte „Schach­ver­gif­tung“ wird der nerven­fieb­rige Zustand hier charak­te­ri­siert; das Spiel lässt den Ich-Erzäh­ler nicht mehr los und repro­du­ziert zugleich seine Erfah­run­gen einer Isola­ti­ons­haft regel­recht körper­lich.

Jene Erzäh­lung inspi­rierte auf verschie­de­nen Ebenen „Aşît" („The Avalan­che") der Filme­ma­che­rin und Künst­le­rin Pınar Öğrenci, für den sie die kurdi­sche Region Van im Osten der Türkei bereiste. Genauer: den Ort Müküs. Öğrenci ist selbst in der Region gebo­ren, ihr Vater stammt direkt aus dem witte­rungs­be­dingt immer wieder schwer zugäng­li­chen Müküs. Den abge­le­ge­nen Ort hatte er im Alter von zehn Jahren zuletzt gese­hen und nach seinem Wegzug von dort nie wieder besu­chen können – wenn­gleich dies sein letz­ter Wunsch gewe­sen war, wie man gleich zu Beginn der gut 60-minü­ti­gen Film­ar­beit erfährt. Hierin allein begrün­det sich jedoch nicht das Inter­esse Öğrencis an Müküs, wie sie in einem Inter­view 2022 erklärte. Aufgrund seiner geogra­phi­schen Isoliert­heit glei­che der Ort einer Oase, die Kapi­ta­lis­mus und staat­li­che Behör­den erst spät erreich­ten, und stelle so eine Art Zeit­ma­schine dar, nahezu voll­stän­dig geschützt vom massi­ven Berg­ge­stein, das ihn umgibt: „But this time machine can also be imagi­ned as a kind of prison. So it's like a hotel room where Zweig's charac­ter, Doctor B. is isola­ted.”




SCHACH ALS CHIFFRE FÜRS ÜBERLEBEN

Jene Duali­tät zieht sich durch „Aşît“ wie ein roter Faden, der immer wieder aufblitzt. Schon der Titel ist poly­sem – trägt im Kurdi­schen also zwei Bedeu­tun­gen – beschreibt er doch einer­seits eine Lawine, ande­rer­seits eine Kata­stro­phe. Zwei­te­res verweist in Pınar Öğrencis Werk auf den 1915 durch die Regie­rung des osma­ni­schen Reichs began­ge­nen Völker­mord an der arme­ni­schen Minder­heit des Landes, dessen Auswir­kun­gen sich wie ein unheil­vol­ler Schleier über den Film legen.  Im Schach – wiederum eine Poly­se­mie, die im Portu­gie­si­schen auch Gefäng­nis bedeu­tet – findet die Künst­le­rin in Anleh­nung an Stefan Zweigs Novelle so beispiels­weise eine Chif­fre für die Über­le­bungs­stra­te­gien von Exilant*innen und Verfolg­ten, die analog zu den Zügen im Brett­spiel zwischen Länder­gren­zen hinweg das eigene Leben zu orga­ni­sie­ren versu­chen. Hier spie­gelt sich auch das eigene Leben der Künst­le­rin, die selbst nach einer Frie­dens­de­mons­tra­tion in der Türkei inhaf­tiert wurde. Im anschlie­ßen­den Prozess forderte die Staats­an­walt­schaft eine 18-jährige Haft­strafe, weshalb Öğrenci das Land verließ und nach mehre­ren Zwischen­sta­tio­nen in unter­schied­li­chen euro­päi­schen Ländern schließ­lich in Deutsch­land landete.



Die Kamera fokus­siert sich in „Aşît“ immer wieder auf die beein­dru­ckende Land­schaft der Region Van: majes­tä­ti­sche Berg­ket­ten und unweg­same Täler, glei­cher­ma­ßen einge­hüllt im ewigen Weiß der Unmen­gen an Schnee, der das halbe Jahr über alles bedeckt. In die Land­schaft über Jahr­hun­derte einge­schrie­ben, zeugen Archi­tek­tur und Flora von der arme­ni­schen Minder­heit, die hier über Jahr­hun­derte hinweg lebte: kleine Kirchen, Klos­ter, Brücken und Über­reste von Walnuss-Bäumen, die nach arme­ni­scher Tradi­tion zahl­reich ange­pflanzt wurden. Stille Zeugen eines Mensch­heits­ver­bre­chens, dessen Aufar­bei­tung immer noch nicht in Sicht ist.

EINBLICK IN DIE IRANISCHE LEBENSREALITÄT DER 1980ER-JAHRE

Als weite­ren Film hat Pınar Öğrenci „Close-up“ des irani­schen Regis­seurs Abbas Kiaro­st­ami ausge­wählt. Im Stile des Cinéma vérité, einer haupt­säch­lich fran­zö­si­schen Ausprä­gung des Doku­men­tar­fil­mes, in der Filme­ma­cher*innen und Gefilmte direkt mitein­an­der inter­agie­ren, erzählt der Film die Geschichte des verarm­ten Tehe­ra­ner Drucke­rei­ar­bei­ters Hossain Sabzian. Dieser lernt während einer Busfahrt die gutbür­ger­li­che Mahrokh Ahank­hah kennen und gibt sich, offen­bar aus einer Laune heraus, als der bekannte irani­sche Regis­seur Mohsen Makhmalbaf aus. Die sicht­lich beein­druckte Frau lädt den Mann ein, ihre Fami­lie kennen­zu­ler­nen, da gerade ihre Söhne die Arbeit des Regis­seurs sehr schät­zen. Sabzian freun­det sich im Folgen­den mit der Fami­lie an und spielt weiter­hin die Rolle des Regis­seurs, der nun gar einen Film mit den Ahank­hahs drehen möchte. Der Vater schöpft jedoch irgend­wann Verdacht, und Sabzian wird schließ­lich als Hoch­stap­ler verhaf­tet.


Abbas Kiaro­st­ami mischt in „Close-up“ doku­men­ta­ri­sche mit nach­ge­stell­ten Aufnah­men. Der Regis­seur steckte eigent­lich gerade in den Vorbe­rei­tun­gen zu einem ande­ren Fall, als er durch einen Maga­zinar­ti­kel auf den Fall aufmerk­sam wurde und sofort beschloss, den Bege­ben­hei­ten filmisch zu beglei­ten. Noch vor dem Gerichts­pro­zess konnte er sowohl den verarm­ten Drucke­rei­ar­bei­ter wie auch die gutsi­tu­ierte Fami­lie für den Film gewin­nen, die sich jeweils selbst spie­len. Die Rück­blen­den stellte Kiaro­st­ami mit den Prot­ago­nist*innen nach, während er den Prozess tatsäch­lich mitfil­men durfte und den mutmaß­li­chen Hoch­stap­ler auch dort über seine Beweg­gründe befragt. Sogar der erfolg­rei­che Regis­seur Mohsen Makhmalbaf, als den Sabzian sich ausgab, erscheint zum Ende von „Close-up“. Eindrucks­voll gelingt dem Film so eine recht spezi­fi­sche Zeich­nung irani­scher Lebens­rea­li­tät zum Ausklang der 1980er-Jahre, die es gleich­wohl versteht, ein größe­res, gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Bild einzu­fan­gen. Ebenso thema­ti­siert Abbas Kiaro­st­a­mis Film Kunst als Möglich­keit, eine Gegen­rea­li­tät zu kreieren, die so zu Über­le­bens­stra­te­gie und letz­tem Hoff­nungs­schim­mer in einer kaum mehr zu ertra­gen­den Reali­tät wird.

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