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Eine Sinfonie von Transformation, Verfall und Regeneration

In Zeiten, in denen das Wort Symbiose in aller Munde scheint und durch Phra­sen wie „Symbio­ti­sche Wirt­schaft“, „Wert­schöp­fung durch Konnek­ti­vi­tät“, „indus­tri­elle Symbiose“ oder natür­lich „Work-Life-Blen­ding - die Symbiose von Leben und Arbeit“ jenseits der Biolo­gie auch im PR- und Mana­ger­sprech ange­kom­men ist, wirkt das zuvor domi­nante Modell schon fast verges­sen. „Survi­val of the fittest“ war nicht nur die Faust­for­mel in der Biolo­gie für die natür­li­che Selek­tion der Evolu­tion, sondern schien auch das wirt­schaft­li­che Trei­ben der Mensch­heit am besten zu erklä­ren. Doch heute weiß man, dass der größte Teil der Biomasse auf der Erde aus symbio­ti­schen Syste­men besteht, und die Symbio­ge­nese, also die Entste­hung neuer Zell­or­ga­nel­len aufgrund eines Zusam­men­schlus­ses unter­schied­li­cher Arten, eine aner­kannte Tatsa­che ist. Bekann­tes­tes Beispiel einer solchen Symbiose ist die Flechte, ein Zusam­men­schluss von Pilzen und Grün­al­gen, deren Eigen­schaf­ten sich deut­lich von den einzel­nen Orga­nis­men, aus denen sie besteht, unter­schei­det. Und schon befin­det man sich in der Welt von Eglė Budvy­tytė Film „Songs from the compost: muta­ting bodies, implo­ding stars” aus dem Jahr 2020.


„HELLO, I’M A CYBORG“

„We have never been pure. We have never been clean“, singen digi­tal verfrem­dete Stim­men auf der Tonspur, während eine Gruppe junger Menschen lang­sam durch ein sonnen­durch­flu­te­tes Wald­stück läuft. Die Kamera fährt in der nächs­ten Einstel­lung behut­sam den Boden ab und zeigt die symbio­ti­sche Flechte, die über­all in der Land­schaft heimisch ist, in Groß­auf­nahme. Eine ledig­lich mit einer zerris­se­nen Hose beklei­dete Person liegt dort, deren Körper wie eben­jene Flechte eben­falls eine Verbin­dung mit einer ande­ren Art einge­gan­gen zu sein scheint: aus Bein und Rücken wach­sen pilz­ar­tige Geflechte.  „Hello I’m a Cyborg, a non-binary alien after gender aboli­tion”, erklingt es im dazu gehö­ri­gen Sound­track. Misch­we­sen mit Körper­pro­the­sen oder aus dem Leib ragen­den, orga­ni­schen Formen bevöl­kern Eglė Budvy­tytės Arbeit, die sie an der kuri­schen Nehrung, einem Sand­strei­fen an der Küste Litau­ens, mit jungen Tänzer*innen einer loka­len Hoch­schule gedreht hat. Sie tragen Klei­dung, die in Zusam­men­ar­beit mit Marija Olšauskaitė and Julija Stepo­nai­tytė entstan­den ist. Hosen, T-Shirts oder Pull­over wurden hier­für wochen­lang im Boden vergra­ben und so dem Prozess der Kompos­tie­rung über­ge­ben, bevor sie anschlie­ßend weiter mit Schere und Sand­pa­pier bear­bei­tet wurden.



Die mit unzäh­li­gen Flech­ten über­sä­ten Wald- und Küsten­land­schaf­ten Litau­ens dienen Eglė Budvy­tytės Arbeit als Hinter­grund für eine Welt, in der die menschen­ähn­li­chen Wesen schein­bar eine Symbiose mit der Umwelt einge­gan­gen sind. Boden­nah, kopf­über verrenkt, bewegt sich eine Gruppe Tänzer*innen einen Sand­strei­fen entlang, später liegen sie auf dem Wald­bo­den inein­an­der verwo­ben oder durch­wa­ten das Wasser, ganz so, als würden sie in dem Ursprung jegli­chen Lebens aufge­hen. „I am a host I am being hosted I am a host hosting”, heißt es derweil in der über die gesamte Länge des Films erklin­gen­den Song­col­lage. Text­frag­mente verwei­sen auf das lite­ra­ri­sche Werk O.E. Butlers, die  erste mit einem MacAr­thur Fellowship ausge­zeich­nete SciFi-Auto­rin, die in ihren Büchern Themen wie Post­hu­ma­nis­mus und Afro­fu­tu­ris­mus mitein­an­der verwo­ben hat. Eben­falls tauchen Bezüge wissen­schaft­li­cher Arbei­ten von Lynn Margu­lis auf, die der These der Symbio­ge­nese zur Bekannt­heit verhalf. „Life did not take over the globe by combat, but by networ­king“, verkün­dete die Wissen­schaft­le­rin einst, die darwin­sche Lehre vom Wett­streit sei demnach unvoll­stän­dig. „Songs from the compost: muta­ting bodies, implo­ding stars“ verweist schon im Titel eben hier­auf – Symbio­sen und Koope­ra­tion, eine Sinfo­nie von Trans­for­ma­tion, Verfall und Rege­ne­ra­tion, wo hin das Auge auch sieht, vom Mikro- bis hin zum Makro­kos­mos.



CHRIS MARKERS „SANS SOLEIL“

Zwischen zwei Extre­men schwebt auch Chris Markers „Sans Soleil“, den sich Eglė Budvy­tytės als weite­ren Film ausge­sucht hat. Nament­lich zwischen Japan und Guinea-Bissau in West­afrika, „two extreme poles of survi­val“, wie es aus dem Off heißt. Der Film ist Chris Markers spätes Opus magnum (der 2003 gar in den Film­ka­non der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung aufge­nom­men wurde): ein Film­es­say, eine Reise­do­ku­men­ta­tion, eine Medi­ta­tion über mensch­li­che Erin­ne­rung und persön­li­che Wahr­neh­mung. Einge­bet­tet in eine fiktive Erzäh­lung rund um einen Kame­ra­mann namens Sandor Krasna, dessen Briefe, Reise­be­richte und philo­so­phi­schen Refle­xio­nen eine namen­lose Frau auf der Tonspur verliest, zeigt der Film die selbst gedreh­ten Film­auf­nah­men des fikti­ven Alter Egos Markers sowie Archiv­ma­te­rial aus Japan und Guineau-Bissau, den Kapver­den und Island. „I’ve been round the world several times and now only bana­lity still inte­rests me”, heißt es am Anfang, während schla­fende Passa­gier*innen auf einer Fähr­über­fahrt zwischen Hokkaido und dem Fest­land zu sehen sind. In der vermeint­li­chen Bana­li­tät des Alltags zwischen japa­ni­schen Video­spiel­hal­len, Kauf­häu­sern und Tempel­an­la­gen oder in Aufnah­men von west­afri­ka­ni­schen Hafen­ar­bei­ter*innen und doku­men­ta­ri­schen Ausschnit­ten vom Unab­hän­gig­keits­krieg in Guinea-Bissau entwi­ckelt Chris Marker mit „Sans Soleil“ ein zutiefst persön­li­ches, huma­nis­ti­sches Kino, dem gelingt, was Film in seinen besten Momen­ten beson­ders macht: der Fiktion Wahr­hei­ten abzu­trot­zen, derer man anders nicht habhaft werden kann.

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