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Zeit und Kunst: Die Wiener Secessionisten

Termine, Besprechungen, Deadlines – Zeitpläne strukturieren den Tag. Beim Blick auf die Kalender der Wiener Secessionisten schleicht sich hingegen die Kunst in den Alltag.

Von Daniel Urban

Fragt man einen Program­mie­rer, wie man am besten einen Kalen­der in eine Web-Anwen­dung einbin­det, wird dieser vermut­lich die Hände über den Kopf zusam­men schla­gen. Denn dafür sind neben den Tages­da­ten unter Berück­sich­ti­gung der Schalt­jahre auch die verschie­de­nen Zeit­zo­nen zu beach­ten. Um sicher zu gehen, wann wo ein Tag beginnt und endet, gilt es dabei absurde Bege­ben­hei­ten wie beispiels­weise unter­schied­li­che Zeit­zo­nen auf glei­chen Längen- und Brei­ten­gra­den zu beach­ten. Nepal etwa rech­net, um sich vom großen Nach­barn Indien abzu­gren­zen, im eige­nen Land einfach 15 Minu­ten Zeit hinzu.

Noch kompli­zier­ter wird es, wenn der Kalen­der prolep­tisch, also in die Vergan­gen­heit hinein, funk­tio­nie­ren soll: hier gibt es zu verschie­de­nen Zeiten unter­schied­li­che Kalen­der­sys­teme. Im Frank­reich der Post-Revo­lu­ti­ons­phase beispiels­weise wurde für gut 13 Jahre der grego­ria­ni­sche Kalen­der ausge­setzt, zuguns­ten des eige­nen Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­ons­ka­len­ders, dessen Woche jeweils zehn anstatt der übli­chen sieben Tage umfasste. In Anbe­tracht dieser Tatsa­chen ist es bei weitem entspann­ter, man über­lässt die Zeit-Erfas­sung besser Ande­ren und widmet sich lieber der Orga­ni­sa­tion der eige­nen Zeit mit Hilfe eines bereits ferti­gen Produkts: des Kalen­ders.

Kalendersysteme

Während man heut­zu­tage dafür meist das Smart­phone zückt, viel­leicht auch das Mole­s­kine bemüht oder gar noch den Wand­ka­len­der mit mehr oder weni­ger geschmack­vol­len Nach­dru­cken benützt, spielt der Kalen­der als Produkt eigent­lich keine große Rolle mehr. Dass dies auch anders geht, zeigen uns einmal mehr die Wiener Seces­sio­nis­ten: Die Künst­ler­ver­ei­ni­gung veröf­fent­lichte von 1901 bis 1903 in der jeweils ersten Ausgabe ihrer Haus­zeit­schrift Ver Sacrum komplette Jahres­ka­len­der, quasi als Heft im Heft. Die Gestal­tung ist unter­schied­lich: mal ein Werk pro Monat, mal zwei – jedoch bekommt jeder Monat immer eine Doppel­seite zuge­stan­den. In den Ausga­ben von 1901 und 1902 werden unter­schied­li­che Tech­ni­ken genutzt, in jener von 1903 der Farb­holz­schnitt. Diverse Künst­ler der Wiener Seces­sion steu­ern Arbei­ten bei: Gustav Klimt, Ferdi­nand Andri, Fried­rich König, Emil Orlik, Kolo­man Moser, Joseph Maria Auchen­tal­ler – die Liste ließe sich fort­füh­ren.

Schon in den ersten beiden Jahres­ka­len­dern kommt die kalen­da­ri­sche Darstel­lung für heutige Verhält­nisse nicht allzu ordi­när daher: neben den grego­ria­ni­schen Kalen­der­ta­gen sind die katho­li­schen und protes­tan­ti­schen Namens­tage notiert, in den dane­ben­lie­gen­den Spal­ten die Daten mit den grie­chi­schen/atti­schen und jüdi­schen resp. israe­li­ti­schen Kalen­der­sys­tem aufge­lis­tet. Die Kalen­der­bei­lage des 1. Heftes des Jahres 1903 verzich­tet auf solche viel­leicht prak­ti­schen aber auch verwir­ren­den Anga­ben und präsen­tiert neben den Farb­holz­schnit­ten nur noch die von Alfred Roller aufwen­dig gestal­te­ten Tages­zah­len der jewei­li­gen Monate incl. der Mond­pha­sen, die die Kunst­fer­tig­keit stär­ker in den Fokus stellt und sich somit schon etwas vom prag­ma­ti­schen Alltags­ge­brauch entfernt. Die Werke der Künst­ler zeigen jahres­ty­pi­sche Land­schafts- oder entspre­chende Stim­mungs­bil­der.

Entkoppelung vom klassischen Kalender

Im Jahr 1903 kreiert Kolo­man Moser für Carl From­mes Kalen­der-Verlag einen Jungend­stil Kalen­der und auch andere Künst­ler begeis­tern sich für das Format. So veröf­fent­licht auch Carl Otto Czechska einen Kalen­der, der sich ästhe­tisch stark am Jugend­stil orien­tiert, Mosers Ehefrau Editha „Ditha“ Moser erschafft neben aufwen­dig gestal­te­ten Tarot- und Whist-Karten­sets auch mehrere Kalen­der. Während die Ausgabe des Jahres 1908 kirch­li­che Motive in naiv anmu­ten­der Form verar­bei­tet, stellt die Künst­le­rin in späte­ren Kalen­dern grie­chi­sche und germa­ni­sche Götter in schwarz-gold-weiß gehal­te­nen Drucken dar – die kalen­da­ri­schen Daten sind noch vorhan­den, schei­nen hier jedoch immer mehr Design-Element denn Gebrauchs­ge­gen­stand zu sein.

Auf die Spitze treibt dies der öster­rei­chi­sche Maler und Grafi­ker Franz von Zülow. In seinen Monats­hef­ten, die er von 1909 bis 1915 heraus­gibt, führt er die komplette Entkop­pe­lung vom klas­si­schen Kalen­der folge­rich­tig zu Ende: entle­digt von schnö­den Kalen­der­da­ten prangt nur noch der jewei­lige Monat mitsamt Jahr auf dem Cover des Lepo­rel­los. Die folgen­den Falt­blät­ter zeich­net von Zülow zuerst von Hand voll­stän­dig selbst, später werden sie im von ihm entwi­ckel­ten Papier­schnitt­druck herge­stellt und finden als Abneh­mer illus­tre Persön­lich­kei­ten wie Gustav Klimt und Egon Schiele. Sie verblüf­fen in ihrer üppi­gen Gestal­tungs­wut, zeigen bunte, witzige Darstel­lun­gen vom Land- und Bauer­le­ben.

Alle Kalen­da­rien wirken wie der kecke Versuch der Kunst in das Alltags­le­ben einzu­drin­gen und einen ganz prag­ma­ti­schen Mehr­wert anzu­bie­ten. Betrach­tet man die Entwick­lung der Publi­ka­tio­nen von den Ver Sacrum-Kalen­der­hef­ten bis zu von Zülows Monats­hef­ten, entle­di­gen sich diese immer mehr dem Alltags­ge­brauch und schaf­fen es so viel­leicht gar, den einen oder ande­ren Nutzer für Kunst denn für Zeit­pla­nung zu begeis­tern. Die Kalen­der­blät­ter führen ihren eige­nen Zweck so gewis­ser­ma­ßen ad absur­dum, da sie ihrer Erschei­nungs­form nach weit über den für sie ange­dach­ten Zeit­raum hinaus­schie­len. Ob die diver­sen Kalen­der dem einzel­nen Betrach­ter nun auch heute noch gefal­len oder nicht: das ist alle­mal mehr, als die aktu­elle Kalen­der­land­schaft von sich behaup­ten kann.


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