19 abonnements et 3 abonnés
Critique

Was die "zirkuläre Mobilität" bedeutet

Die Hartz-Reformen im Fokus der Wissenschaft |


Kürzlich stellte der Frankfurter Campus-Verlag in Berlin ein Buch vor, das auf langjährigen Studien beruht und erstmals auch die Leistungsbezieher zu Wort kommen lässt. Die Forscher verzichten auf jegliche politische Stellungnahme. Doch ihr Fazit ist deutlich: Die Hartz-Reformen aktivieren nichts und verletzen die Menschenwürde.

Das Buch ist über 400 Seiten dick. Zahlreiche Wissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena haben über sieben Jahre in je zwei exemplarischen Regionen in Ost- und Westdeutschland, darunter ein Ost-Landkreis und eine Ost-Kleinststadt, in mehreren Befragungswellen Hunderte von Interviews geführt und ausgewertet. "Die Studie setzt am Anspruch der Reformen an", erklärte Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie. Das bedeutet: "Die Daten sind zwar nicht repräsentativ im statistischen Sinn, aber dafür nah am Alltag der Leistungsbezieher."

Ein Beschäftigungswunder fanden die Forscher nicht. Eher "sozial geförderte Ersatzarbeit". Die BRD habe den modernsten Niedriglohnsektor der Welt geschaffen und eine enorme soziale Spreizung verursacht. Der Kern sei auch keine Aktivierung: "Selbst Erfolglosigkeit wird als Wettbewerb inszeniert und die Sachbearbeiter/ Fallmanager agieren als Schiedsrichter." Dabei orientieren sie sich an Gerechtigkeitskriterien und gingen von der Kritik an der Reform zu Kritik an den Kunden über. Interessant ist die Klassifizierung der subjektiven Erwerbsorientierung. Dabei unterscheiden die Forscher die Um-jeden-Preis-Arbeiter, die Als-ob-Arbeiter und bewusste Nichtarbeiter. Der Befund lautet: "Viele strampeln sich ungeheuer ab, aber kommen nicht vorwärts." Wissenschaftler nennen das "zirkuläre Mobilität".

Je länger sich Menschen im Leistungsbezug befinden, desto mehr definieren sie sich als "Minderheit an der Schwelle der Respektabilität". Anhand der Daten schlussfolgern die Soziologen: "Die Hartz-Reformen aktivieren gar nichts, verletzen die Menschenwürde und gehören korrigiert." Im Buch heißt es: "Die Hartz-Reformen waren die richtige Therapie, um den Virus der Leistungsunwilligkeit auch in der gesellschaftlichen Mitte zu bekämpfen… Sie haben den zu Passivität neigenden Unterschichten tatsächlich Beine gemacht." Soziologie-Professor Klaus Dörre bezeichnet sie als "Eliteprojekt von oben". So stieg die absolute Zahl der geringfügig Beschäftigten in allen befragten Regionen im Gesamtverlauf 2003 bis 2009 an.

Für Fallmanager und Politiker sollte dieses Werk Pflichtlektüre sein. Auch wenn es aufgrund des wissenschaftlichen Hintergrundes teilweise nicht ganz flüssig zu lesen ist, informiert es anschaulich und eindringlich über "eigensinnige Aktivität", Zumutbarkeit, praktische Auswirkungen von verwehrter Teilhabe am öffentlichen Leben und der Paradoxie des "Forderns und Förderns".

Dagmar Möbius

[veröffentlicht im Dresdner Universitätsjournal 9/2014 vom 20. Mai 2014, S. 6]

 Klaus Dörre, Karin Scherschel, Melanie Booth u. a.: »Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik«, Campus Verlag
ISBN-13: 978-3593397979
29,90 Euro