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Vielleicht lag eine „New York Times" auf dem Fenstersims, als Paul Simon und Art Garfunkel am 2. Februar 1968 das Tonstudio ihres Labels Columbia in Manhattan betraten. „There's no time at all", heißt es immerhin in ihrem dort entstandenen Lied „Overs", „just the ‚New York Times' sitting on the windowsill near the flowers." Das Duo war gerade mit der Arbeit an „Bookends" beschäftigt, seinem vierten und vorletzten Album, das zwei Monate später erscheinen würde. Die Mehrheit der Songs war fertig, den schönsten hatten sie bereits am Tag zuvor aufgenommen: „America", eine zeitraffende Kurzgeschichte über die einsame Zweisamkeit eines Liebespaars auf Reisen, das gar keine universelle Zeitdiagnose zu sein scheint und doch so heißt wie die ganze Nation mit den „einsamen Augen". So jedenfalls hört man es auf der Albumversion von „Mrs. Robinson", die an eben diesem 2. Februar eingespielt werden sollte.
Nehmen wir also an, Simon und Garfunkel hätten auf die Titelseite der Zeitung geblickt, bevor sie mit dem Singen begannen. Was hätten sie gesehen?
Eine bemerkenswerte Momentaufnahme amerikanischer Zeitgeschichte. Links eine Meldung: Am gestrigen Tag habe der ehemalige Vizepräsident Richard M. Nixon seine Bewerbung um die republikanische Nominierung zur Präsidentschaftswahl 1968 eingereicht. Rechts eines der berühmtesten Fotos des 20. Jahrhunderts: Aus Nahdistanz exekutiert Nguyễn Ngọc Loan, Polizeichef des mit den Vereinigten Staaten verbündeten Südvietnam, wie nebenbei den Vietcong-Kämpfer Nguyễn Văn Lém mit einem Schuss in den Kopf. Die Aufnahme aus den ersten Tagen der Tet-Offensive ließ viele Amerikaner an der Legitimität des Krieges zweifeln.
Wer „America" hört, denkt nicht an dieses Bild, nicht an Vietnam, nicht an Nixon. Und doch führt dieser unpolitische, naive, klischeehafte, wunderschöne Song über einen Tramper, der von Michigan aus ostwärts fährt, „um Amerika zu suchen" am Ende genau dorthin.
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1. Februar 2020.
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