Bei den Filmfestspielen von Cannes ob seiner unerträglichen
Gewaltdarstellung zum “Skandalfilm” ausgerufen, ist das eigentlich Skandalöse
an Gaspar Noés handwerklich brillanter und emotionaler Tour de Force lediglich
die Tatsache, dass diese dem Zuschauer zeitweise die Kehle zuschnürt und ihn am
Ende beunruhigt in die Wirklichkeit entlässt. Wie “Memento” erzählt “Irréversible”
seine Geschichte rückwärts und zeigt in zwölf jeweils in einer Einstellung
gedrehten Sequenzen eine brutale Vergewaltigung und ihre exzessive Vergeltung.
Wenig klarer könnte Noé, der für Drehbuch, Regie, Schnitt und Kamera
verantwortlich zeichnet, in seinem mit Kubrick-Verweisen gespickten “Uhrwerk
Orange” nicht die Frage formulieren, ob die Darstellung von Vergewaltigung und
Mord überhaupt anders möglich sein darf.
Eine Frage, die das Publikum spalten wird, doch ebenso angebracht ist wie die
instinktive und perfekt ausgeführte Rückwärtsstruktur, die folgerichtig mit dem
Abspann beginnt. Bereits die Inszenierung der schwer lesbaren, teilweise
verkehrt herum stehenden Buchstaben ist ein Kunstwerk, dem mit jedem der
bravourös choreographierten, ungeschnittenen Segmente ein weiteres folgt. Der
verwirrende Einstieg versetzt den Zuschauer in den chaotischen Zustand, in dem
sich die Protagonisten am Ende einer einzigen höllischen Nacht befinden. Neben
Albert Dupontel glänzen als Monica Bellucci und Vincent Cassel (auch im realen
Leben ein Paar und hier die Antwort auf Kidman/Cruise aus Kubricks “Eyes Wide
Shut”). Oberflächliche, doch um so wahrhaftigere Dialoge und Emotionen werden
von der voyeuristischen Kamera festgehalten, die die improvisierten, authentischen
Szenen verdichtet. Lediglich die Übergänge zwischen den abgeschlossenen
Sequenzen, in denen die anfangs rasende - “durchdrehende” - und
schwindelerregende Handkamera kurz in dunkle Schatten oder in den Himmel
taucht, gönnen dem Zuschauer Momente des Atemholens.
Mit der zu beweisenden Behauptung “Zeit zerstört alles!” schickt Noé sein
Publikum auf eine deprimierend pessimistische Odyssee. Ein Mann namens Marcus
(Cassel) wird verletzt und benommen aus einem S/M-Gay-Club auf einer Bahre
herausgetragen. Ein Zweiter, Pierre (Dupontel), wird in Handschellen von
Polizisten abgeführt. Die darauf folgenden - also vorangegangenen - Szenen
zeigen Marcus und Pierre wütend, offensichtlich auf Rache sinnend, in den
Nachtclub hineinstürzen; sie zeigen ihre Suche nach Informationen, die sie
schließlich dorthin führen; und nach und nach erhält auch der Zuschauer die
nötigen Auskünfte, um Marcus’ Zorn, sein Verhältnis zu Pierre und ihrer beider
Beziehung zu der schönen Alex (Bellucci) einordnen zu können. Alles wird klar,
wenn diese nach etwa der Hälfte des Films allein in einen Fußgängertunnel tritt
und dem Mann begegnet, nach dem ihr Freund und ihr Ex später suchen werden. Der
Horror erreicht seinen Höhe- und Ausgangspunkt in einer zehnminütigen, quälend
realistischen und demütigenden Vergewaltigungsszene: Ohne einen eingreifenden,
erlösenden Schnitt steht die Zeit für diesen Moment so still wie die
unerbittliche Kamera. Die Bedeutung aller anschließenden, eigentlich harmlosen
Bilder - die ausgelassene Party, die die drei Freunde besuchen, gemeinsame
Gespräche auf dem Weg dorthin bis zu intimen Momenten zwischen Marcus und Alex
zuvor - wird vollständig ad absurdum geführt. Das Furchtbarste und das Beste im
Menschen, privates Glück und perfides Grauen fließen untrennbar ineinander. Und
wenn die Kamera ganz am Schluss wie in den siebten Himmel aufsteigt und
zärtlich auf einen Moment vollkommener Glückseligkeit blickt, hat auch dieser
seine Unschuld verloren, die zurückliegende Zeit alles zerstört. Was damit am
Ende von “Irréversible” und dem Zuschauer bleibt, ist das beunruhigende Gefühl,
dass nichts im Leben - weder Liebe, Freundschaft, noch die Hoffnung auf die
Zukunft - garantiert ist.
Corinna Götz
München
Critique