In „The Look of Silence" lässt Joshua Oppenheimer Opfer und Täter aufeinandertreffen.
Es ist verboten zu töten; deshalb werden Mörder bestraft. Es sei denn, sie töten in großer Zahl und zum Klang von Trompeten". Dieses Voltaire-Zitat stellte Regisseur Joshua Oppenheimer vor seinen meisterhaften Dokumentarfilm „The Act of Killing" von 2012 und er hätte es bei der Fortsetzung „The Look of Silence" wieder tun können.
Gemeinsam mit einem anonymen Co-Regisseur beschäftigt sich Oppenheimer erneut mit den unfassbaren Gräueltaten, die in Indonesien 1965 nach einem Putschversuch angerichtet wurden. Auch wenn die Rebellion nachweislich aus den Reihen der Präsidentenarmee kam, wurde die Kommunistische Partei verantwortlich gemacht. Innerhalb eines Jahres ließ die Regierung schätzungsweise eine Million Menschen, vermeintliche Kommunisten, ermorden - die Täter werden bis heute vom Staat als Helden gefeiert.
Während „The Act of Killing" einen schockierenden und visuell atemberaubenden Einblick in die Psyche der Mörder lieferte, liegt der Fokus diesmal auf einem Einzelschicksal. Der 44-jährige Adi ist Optiker und lebt im Schatten seines älteren Bruders, der zwei Jahre vor seiner Geburt auf brutalste Art und Weise hingerichtet wurde. Bei seiner Mutter ist der Verlust bis heute präsent. Sie erzählt die Geschichte von der Nacht seines Todes wieder und wieder, jeden Tag aufs Neue. Wie er blutüberströmt nach Hause kam, dem Tötungskommando in letzter Sekunde entkommen. Wie die Männer dann an ihre Tür klopften und vorgaben, den Schwerverletzten ins Krankenhaus zu fahren und ihn stattdessen weiter verstümmelten und verbluten ließen. Sie kennt die Männer, die ihren Sohn quälten, begegnet ihnen regelmäßig im Dorf und darf doch nichts sagen zu diesen Schlächtern, über die die Kinder um Schulunterricht lernen, dass sie ihnen die Demokratie zu verdanken haben.
Adis Bruder Ramli war, wie so viele andere auch, kein Kommunist. Er setzte sich lediglich für bessere Arbeitsbedingungen ein und war der Regierung deshalb ein Dorn im Auge. Darüber wird geschwiegen, von Opfern und Tätern gleichermaßen, während die über das Töten erzählen, lachen und wild gestikulieren. Adi hat beschlossen, weiter nachzufragen. Er will wissen, was mit seinem Bruder wirklich geschah und warum. Er setzt sein und das Leben seiner Familie dafür aufs Spiel und trägt diese Entscheidung mit einer still-traurigen Verbissenheit. Warum gerade er? Wahrscheinlich weil seine Mutter nicht schweigen und er nicht aufhören kann, ihr zuzuhören.
Der Mann auf dem kleinen Fernsehbildschirm singt: „Wieso soll ich mich erinnern, wenn es mir nur das Herz bricht?", bevor er grinsend beschreibt, wie er einen Mann „aufgerissen hat, bis die Gedärme rausquollen".
Vor dem Bildschirm sitzt Adi mit versteinerter Miene, die den Abscheu nicht verbergen kann. Oppenheimer inszeniert ihn als Projektionsfläche für die Gefühle der Zuschauer und als sein eigenes Alter Ego, das die Fragen stellt, die der Regisseur beantwortet haben möchte. Diese Rolle füllt Adi aus, mit einem Maß an Mut und Überwindung, das in seiner Größe nur in wenigen Momenten erahnbar wird. Wenn ihm die Tränen in die Augen steigen, er schlucken muss und der Schmerz über die defensiven Reaktionen der Verantwortlichen nicht mehr zu verbergen ist.
Denn Adi will vor allem eins von seinen Gegenübern: Reue. Er will, dass sie Verantwortung für ihre Taten übernehmen, nicht um der Genugtuung willen, die es nie geben wird, sondern um seiner Mutter die Möglichkeit zu geben, den Mördern ihres Kindes zu verzeihen. Doch er hat keinen Erfolg. Niemand sieht die Schuld bei sich, die Männer klammern sich mit aller Kraft an ihr Fantasiegebilde aus Zwängen, Ohnmacht und Pflichtbewusstsein, das sie sich über ein halbes Jahrhundert lang aufgebaut haben.
Teilweise finden Adis Besuche unter dem Vorwand seines Berufes statt, dann testet er die Sehstärke der Befragten, wechselt immer wieder die Linse vor ihren Augen, bis sie endlich klar sehen können, als hoffe er, dass sich die Fähigkeit auf ihren Geist übertragen könnte. In Nahaufnahmen fokussiert die Kamera die durch die Linsen schon vergrößerten Augen, während die Männer von ihren Taten erzählen; sie ist auf der Suche nach einem Funken von Unsicherheit oder Schrecken vor sich selbst. Aber sie wollen blind bleiben, glauben es zu müssen, um nicht den Verstand zu verlieren. Aus dem gleichen Grund tranken sie vor fünfzig Jahren das Blut ihrer Opfer.
Adis Heimatdorf, die Oberfläche, unter der das Trauma brodelt, wirkt ruhig und naturbelassen. Grillen zirpenlaut, Blätter rauschen, doch Lastwagen bleiben stumm in ihrer dunklen Bedrohung, jederzeit wieder Menschen abholen zu können. Oppenheimer verstärkt die Stille, bis sie in den Ohren dröhnt. Die Kamera macht er zu seiner Komplizin. Für die Mörder bietet sie eine Bühne, auf der sie ihre Geschichten im Sinne der historischen Dokumentation ausbreiten können, Adi und dem Regisseur verleiht sie Autorität. Angstvolle Blicke werden ihr zugeworfen, getarnt als Rechtfertigung und Angeberei.
Spätestens seit „The Act of Killing" kennen beide Seiten die Macht der Bilder. Und trotz all der unabsehbaren Konsequenzen scheint der therapeutische Effekt der Visualisierung seine magische Wirkung nicht zu verlieren. Ramlis Killer hat die Tat aufgezeichnet, zusammen mit vielen anderen und in einem Buch veröffentlicht. Seine Frau schwört, nichts von dem Morden gewusst zu haben - bis Oppenheimer ihr alte Aufnahmen vorführt, auf denen sie neben ihrem Mann und seinem offenen Buch steht. Das Grauen muss festgehalten werden, um es rechtfertigen oder verurteilen zu können, zwanghaft und voyeuristisch. Auch Adi schaut in die Kamera, das Auge des Filmemachers und Zuschauers, ohnmächtig und nicht ohne Vorwurf. Er weiß, dass auch er missbraucht wird, von unserem Wunsch, Gut und Böse zu identifizieren und diese Welt zu verstehen, in der wir ihn zum Heiligen erklärt haben.
Der Protagonist und seine Familie mussten ihre Heimat verlassen, bevor der Film veröffentlicht wurde. Es war ihnen das Opfer wert, das Schweigen endlich zu brechen. „Nur weil Joshua diesen Film macht und mein Vater das Buch geschrieben hat, ist die Wunde wieder offen" schreit der Sohn von Ramlis Mörder. Er scheint es sich fast selbst zu glauben.
The Look of Silence. DK/GB/INO/N/FIN, 2014. Regie: Joshua Oppenheimer, 103 Minuten.