Römerberggespräche diskutieren über „Homoehe, Partnerliebe, Kinderkult" unter reger Beteiligung des Publikums. Warum erscheinen Patchwork-Familien häufig glücklicher, als das traditionelle Familienmodell?
Eine Frau mit kurzem dunklen Haar ist aus der letzten Reihe des Publikums der 43. Römerberggespräche aufgestanden, um ihre Geschichte zu erzählen. Es fällt ihr sichtlich schwer, zwischendurch muss sie Pausen einlegen, wenn die Stimme sich überschlägt. Die Frau spricht über ihre Mutter, von der sie sich nie geliebt, sondern abgewiesen und gedemütigt gefühlt hat, bis sie dann für viele Jahre den Kontakt zu ihr abbrach. Die Geschichte hat ein glückliches Ende, im Gegensatz zu den vielen anderen, die an diesem Samstag bei den Römerberggesprächen im Schauspiel Frankfurt zum Thema „Heilige Familie - Homoehe, Partnerliebe, Kinderkult" geteilt wurden. Der Gedanke an Leo Tolstois Einleitungssatz zu „Anna Karenina" drängt sich auf: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich". Die persönlichen Geschichten sind so vielseitig wie tragisch, dass man schon geneigt ist, sich Freud und seiner Ansicht von der Familie als Schlangengrube anzuschließen.
Die emotionalsten Reaktionen rief der Beitrag von Filmemacherin Tina Solimann hervor, die sich seit langer Zeit mit dem Thema „Funkstille" beschäftigt, also dem abrupten Kontaktabbruch zwischen verwandten oder ehemals geliebten Menschen. Viele Besucher waren offensichtlich extra gekommen, um ihre Erfahrungen damit weiterzugeben. Und der akute Drang nach Kommunikation dieser Menschen, die sich privat zum Schweigen verdammt haben, zeigte deutlich, wie spannungsreich und emotional das weite Thema Familie nach wie vor ist.
Der "Hausstand" des MannesUm differenzierter über den Gegenstand sprechen zu können, galt es erstmal die Begrifflichkeit zu klären, was sich als gar nicht so einfach herausstellte. Vom Herrschaftsbegriff des „Hausstands" eines Mannes, zu dem neben Blutsverwandten auch Bedienstete gehören, über die bürgerliche Kleinfamilie zu unseren heutigen pluralisierten Lebensmodellen, die den Begriff der Familie extrem geweitet und scheinbar geöffnet haben: Patchwork- und Regenbogenfamilien, Fern- und Homoehe, Polyamouröse Beziehungen oder auch enge Freundschaften können als Familie definiert werden; ein Konzept, das schon lange Bestandteil der Popkultur ist, wie einige der erfolgreichsten TV-Serien wie „Friends", „Sex and the City" oder „Modern Family" beweisen.
Kann es wirklich so einfach sein? Man sucht sich seine Familie selbst aus und sortiert die Blutsverwandten je nach Sympathiefaktor aus? So ist es natürlich, schon rein rechtlich gesehen, nicht. Das Recht spielte bei den Diskussionen allerdings trotz eines außerordentlich informativen Vortrags der Juristin Marietta Auer und der aktuellen Debatte um die Homoehe nur eine untergeordnete Rolle. Gefühle standen im Vordergrund.
Die Soziologin Rosemarie Nave-Herz leitete ihren Vortrag mit der These ein, dass Familien in der westlichen Welt „selten aus Vernunft gegründet" würden. Unter dem Aspekt, dass in unserer Gesellschaft jeder Anlass zur Eheschließung außer der romantischen Liebe geradezu geächtet wird, hat sie damit Recht. Zum Kinderkriegen besteht keine finanzielle Notwendigkeit mehr, ganz im Gegenteil, Nachwuchs ist teuer. Der Kinderwunsch ist laut aktuellen Studien bei beiden Geschlechtern in der großen Mehrheit gegeben, hier scheinen die Gefühle aber dann doch oft der Vernunft weichen zu müssen, wenn es beispielsweise um die Vereinbarkeit von Familie und Karriere geht.
Noch immer die alte MutterrolleFrauen mit akademischem Hintergrund werden bekanntlich immer später Mütter. Nave-Herz sieht die Gründe dafür zum einen in den immer höher werdenden Leistungsansprüchen der kapitalistischen Arbeitswelt, aber vor allem auch in der wachsenden Ablehnung der idealisierten traditionellen Mutterrolle. Diese sei in Deutschland immer noch stark ausgeprägt, während es in Skandinavien normal sei, dass Frauen nach der Geburt schnell wieder arbeiten und sich auch Männer längere Auszeiten aus der Arbeitswelt nehmen. Sie rief dazu auf, nicht nur strukturell, sondern auch normativ zu denken - verbreitete und akzeptierte Bilder des hart arbeitenden Mannes, beispielsweise des Wissenschaftlers, der nichts außer seiner Forschungen im Kopf hat, müssten sich wandeln. Die Hausfrau sei ein vorindustrieller Beruf, dessen Arbeitsbedingungen heute keine Gewerkschaft mehr akzeptieren würde.
Mit ihrer Kritik an der Erwartung, alles für das Wohl des Kindes zurückstecken zu müssen, war sie nicht allein. Schriftsteller und Provokateur Ulf Erdmann Ziegler hielt ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Heiligsprechung des Kindes an sich und wetterte vor allem gegen den Medienzirkus rund um Pädophilie-„Skandale" à la Daniel Cohn-Bendit. Aus dem Publikum kam zu seiner Polemik erstaunlicherweise keine Kritik; ganz anders die Reaktionen zur Internet-Pornografie-Verurteilung von Rotraut De Clerck. Die Psychoanalytikerin sah das Vorstellungsvermögen von Kindern und die Scham als „Hüterin der Intimität" in Gefahr, während der Konsens bei den Zuschauern zu sein schien, dass hier mal wieder ein altes Medium romantisiert und ein neues verteufelt werde.
Einen wunderbaren Abschluss lieferte Publizistin und Autorin Barbara Sichtermann, die nach dem Tod ihres Mannes noch zwei Kinder adoptierte. Sie ließ die „Radioaktivität" von Familie hochleben, deren Zersetzung auch immer eine Neuerfindung möglich mache. Möglicherweise erscheinen Patchwork- und „in vitro"-Familien so glücklich, weil sie gekämpft haben, statt an der Illusion einer Idealfamilie zu verzweifeln.
Am Ende bleibt die Hoffnung, Tolstois Urteil könnte entkräftet werden: Vielleicht müssen sich die glücklichen Familien immer weniger gleichen, sondern können ihr Glück so finden, wie sie es für ihre Mitglieder, wer immer die auch sein mögen, für richtig halten.