Jonas Carpignano begleitet in seinem Debütfilm zwei Flüchtlinge aus Burkina Faso bei ihrer Reise über das Mittelmeer, an dessen Ufer Herausforderungen warten, auf die es kein Vorbereiten gibt.
Als 2010 in der italienischen Stadt Rosarno eine Revolte ausbrach, weil zwei Afrikaner durch Schüsse schwer verletzt wurden, reiste der italienisch-amerikanische Regisseur Jonas Carpignano in die Region, um sich mit der Situation der Flüchtlinge vertraut zu machen. Er lebte mehrere Monate mit ihnen in den provisorischen Unterkünften unter schlechten hygienischen Bedingungen und fand in dieser Zeit sowohl Inspiration für sein künstlerisches Schaffen der kommenden Jahre als auch die Protagonisten seiner Filme. Nach seinem Kurzfilm A Chjàna (2012), der die Ereignisse von Rosarno aus der Perspektive des Flüchtlings Ayiva aus Burkina Faso beleuchtet, ist sein Debütfilm Mediterranea die abendfüllende Ausarbeitung des Stoffs.
Das Ziel ist erst der Anfang
Die beschwerliche Reise von Ayiva (Koudous Seihon) und Abas (Alassane Sy) führt von Burkina Faso über Libyen und Algerien in eine kleine Stadt nach Italien. Den Weg der beiden zeigt Carpignano bildgewaltig in all der Schönheit, die der Kontinent jenseits des Mittelmeers bereithält, aber auch mit allen Facetten der Grausamkeit, die die Protagonisten um jeden Preis hinter sich lassen wollen. Die Kamera fängt die Weiten der Wüste ein, durch die sich die Gruppe von Flüchtlingen in ihren bunten Kleidern im farbenfrohen Kontrast fortbewegt, ist aber meistens doch ganz nah bei ihnen und fokussiert kleine Details, die den Alltag der Reisenden ausmachen. Kopftücher werden gebunden, der feine Sand weht um die angestrengten Körper, Gewänder flattern im Wind. Dann die plötzliche Brechung. Ein Angriff aus dem Nichts - der Ton stumpft zu einem unverständlichen Soundteppich ab, unter dem die Ohnmächtigen sich zu verstecken suchen, als ihnen nun auch noch das letzte Hab und Gut genommen wird. Die schwierigste Etappe, die Reise über das Meer, inszeniert der Regisseur als hypnotischen Albtraum, der in seiner umwerfenden visuellen Kraft wieder sowohl den Schrecken als auch die unzerstörbare Hoffnung der Hilflosen zum Ausdruck bringt. An der rettenden europäischen Küste angelangt, nimmt sich der Film zurück und verfällt in eine ruhigere Szenenabfolge eines neuen Lebens, bei dem schnell klar wird, dass die Ankunft erst der Anfang neuer Nöte ist, deren Ausmaß keiner der Beteiligten vorauszusehen vermochte.
Neorealismus im Flüchtlingscamp
In der Tradition des italienischen Neorealismus bildet Carpignano den Alltag seiner von Laiendarstellern verkörperten Helden, die keine sein können, am Existenzminimum mit wenig Distanz ab und begleitet sie mit einer ruhigen Handkamera durch ihre Parallelwelt aus Plastik, Pappe, heruntergekommenen Wohnhäusern und menschenfeindlichen Industriegebäuden. Er zeigt die Welt der Privilegierteren aus ihren Perspektiven, die sich allerdings immer weiter voneinander entfernen. Während Abas sich mit der schier unerträglichen Situation der Unterkünfte, Anfeindungen und Ausbeutung nicht abfinden will, lässt Ayiva sich nicht von der Überzeugung abbringen, dass sich harte Arbeit am Ende auszahlen muss. Seine und die Entschlossenheit der Zuschauer werden in der monotonen Aneinanderreihung von schlecht bezahlten Aufträgen und kalten Nächten auf die Probe gestellt, nur unterbrochen von kurzen Versuchen sozialer Zerstreuung unter den Flüchtlingen, die fast immer in Enttäuschung enden. Für humoristische Erleichterung sorgen die zahlreichen Tauschgeschäfte, die mit bescheidenem Diebesgut gemacht und von einem italienischem Nachwuchsdealer (Pio Amato) gemanagt werden, der auch als älteres Grundschulkind durchgehen könnte, hätte er nicht ständig eine Zigarette im Mundwinkel hängen, während er seine Kunden kumpelhaft über den Tisch zieht.
Italienische Ambivalenz
Das Antiklimaktische wird im zweiten Teil des Films zum Konzept und etabliert ein grundlegendes Gefühl von Ausweglosigkeit, doch auch die dezent angelegten Spannungsbögen innerhalb der Szenen und dramaturgischen Abschnitte wirken oft etwas unausgegoren und nehmen dem relativ beiläufig erzählten Finale so an Durchschlagskraft. Es fehlt an subtiler Vorbereitung für die sich aufbauende Bedrohung aus der italienischen Bevölkerung, die in ihrer antagonistischen Seite zu anonym bleibt. Greifbarer werden dagegen die Bewohner, die in ihrem Alltag mit den Flüchtlingen zu tun haben. In ihrer Interaktion mit Ayiva gelingt es Carpignano, die interessante Ambivalenz zu transportieren, die in diesem Land herrscht, dessen lange Geschichte mit Ein- und Auswanderung einerseits seine Einwohner für die Situation der Flüchtlinge sensibilisiert hat und dem es andererseits in einer globalisierten Welt an ökonomischen und teilweise auch sozialen Grundlagen fehlt, um angemessen mit einer neuen Lebenswirklichkeit umzugehen, von der sich alle Beteiligten überfordert fühlen.