Elie Wajeman hat einen Film über Anarchie gedreht und sich dabei vor allem gegen die Herrschaft dramaturgischer und visueller Konsequenz aufgelehnt.
Eine junge Frau namens Judith (Adèle Exarchopoulos) beantwortet einem unbekannten weiblichen Gegenüber folgsam Fragen zu ihrem bisherigen Leben. Wie kam sie nach Paris, und wieso wurde sie Anarchistin? Ihre frühe Biografie ist schnell zusammengefasst, und auch die politische Motivation ist leicht herunterzubrechen: Um Liebe ging es ihr - behauptet sie. Es folgen peppige Opening Credits mit Archivfotografien von Anarchisten und eingängigem Revoluzzer-Soundtrack als überraschender Bruch mit dem bedeutungsschwanger geseufzten Einstieg, doch damit ist es schnell vorbei, denn stilistisch geht der Film anschließend da weiter, wo das Eingangsgespräch uns zurückgelassen hat: in einem flachen, von Grautönen dominierten Setting, in dem sich Figuren bewegen, die viel reden und wenig handeln.
Les Anarchistes spielt im Paris des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert. Die Situation der Arbeiter ist katastrophal: Das hat Judith zu Beginn des Films erzählt, und die Zuschauer müssen ihr glauben, denn mehr als eine weitere kurze Szene hält der Film nicht bereit, um diese Beschreibung zu belegen, die die Grundlage einer möglichen emotionalen Teilhabe an den Bemühungen der Protagonisten ist. Bei ihnen handelt es sich um eine Gruppe von Anarchisten rund um Elisee (Swann Arlaud), der mit Judith zusammen ist, und den Polizisten Jean (Tahar Rahim), der sich undercover den Aktivisten anschließt und bald sowohl Gefallen an Judith als auch an der Gemeinschaft findet.
Die bestechende Chemie zwischen Exarchopoulos und Rahim ist ein kleiner Lichtblick in der ansonsten beachtlichen Aneinanderreihung behaupteter Emotionen. Die Momente, in denen es Wajeman gelingt, dem Gefühlsleben seiner Protagonisten mit einer unruhigen Schulterkamera wirklich nahe zu kommen, sind spärlich gesät, größtenteils bleiben die Bilder sehr distanziert oder in wahllos wirkenden Halbnahen. So auch in einer eigentlich zentralen Szene, in der Elisee eine plötzliche Panikattacke erleidet. Statt den Moment zu verdichten, endet die Szene, wie so viele andere, abrupt und wechselt in eine Interviewsituation, in der Elisee selbst das Geschehen reflektiert. Zum wiederholten Mal spricht er vom Grauen dieses „Systems", das dem Regisseur nie zu verbildlichen gelingt - nicht in den sozialen Umständen in den Straßen von Paris und auch nicht in der Interaktion seiner Charaktere.
Wenn Elisee etwa davon spricht, dass das System ihn hat verrückt werden lassen, so weckt das zahlreiche politische Assoziationen. Doch die Art und Weise, wie diese Figur in einer undefinierten Szene mit pädagogisch angesäuertem Beigeschmack den Satz in die Kamera spricht, verschenkt das Potenzial, eine mögliche Aktualität des Sujets deutlich zu machen, und führt eher zu Abwehrhaltung als zu Sympathie.
Dem Mangel an bildlicher Sinnlichkeit kann Adele Exarchopoulos mit ihrer zerbrechlichen Trotzigkeit stellenweise entgegenwirken, doch auch ihre Figur ist zu eindimensional angelegt, als dass sich die Verbindung zwischen privater und politischer Leidenschaft nachhaltig übertragen würde. Es wird viel über Liebe gesprochen, gezeigt aber vorrangig Sex. Der Beziehung zwischen ihr und dem verwaisten Spion Jean fehlt es letztlich an Substanz. Genau wie die Motivationen der Anarchisten im Film läuft sie auf nichts hinaus. Sie entwickelt sich nicht - weder dramaturgisch noch audiovisuell. Während dieser Umstand in Filmen wie Les Amants réguliers von Philippe Garrel über die 68er Bewegung in Paris zum Konzept gemacht wird, fällt der Versuch, mit Les Anarchistes eine universelle Geschichte über eine von optimistischen Idealen geprägte Zerrissenheit zu erzählen, in seiner szenischen Überfragmentierung auseinander.