Was ist und was hätte sein können: Andrew Haigh zeigt, wie die Präsenz der Vergangenheit einem Paar die Gegenwart ungewiss werden lässt.
„Wenn ein Gletscher schmilzt, fließt das Wasser nicht gleich ab. Es versickert im Stein und sammelt sich dort, bis irgendwann alles auf einmal herunterkracht wie ein Tsunami." Das ist es, was Kates (Charlotte Rampling) Ehemann Geoff (Tom Courtenay) am meisten erschüttert, als er ein Buch über den Klimawandel liest. Seine Frau schaut ihn verständnisvoll an. Sie spürt diesen Tsunami, der über dem Paar zusammenzubrechen droht, das am kommenden Wochenende seinen 45. Hochzeitstag feiern will. Geoff hat kurz zuvor Post aus der Schweiz bekommen. Seine Freundin, mit der er vor Kate zusammen war, stürzte damals bei einem Ausflug mit ihm eine Gletscherspalte hinunter und starb, kurz bevor die beiden heiraten wollten. Nun wurde ihr Körper im ewigen Eis gefunden, und Kate muss zusehen, wie ihr Mann sich in ein Leben zurückträumt, in dem keine Rolle für sie vorgesehen war.
Der Regisseur Andrew Haigh hat nach wieder einen sehr intimen Film gedreht. Die Welt von Kate und Geoff ist klein und gemütlich - ein bescheidenes Haus auf dem Land, dessen knarzende Holzwände nachts vor dem Wind schützen, das Dorf in der Nähe und ein fester Freundeskreis, der sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat. Die angenehme Gewohnheit zeichnet Haigh auf feinkörniges 35-Millimeter-Filmmaterial und entscheidet in jeder Szene sehr genau, was klar zu erkennen sein soll und was in der Unschärfe bleibt. So bleibt das Paar miteinander immer wieder im Ungewissen - was nach 45 Jahren selbstverständlich erschien, muss wieder infrage gestellt und neu ertastet werden.
Kate will Verständnis dafür zeigen, dass ihr Mann sich nicht von dem Gedanken lösen kann, seiner ewig jungen Freundin noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, doch die Befürchtung, dass ihm sein wirkliches Leben immer mehr entgleitet, Bilder von dem, was ist, von dem, was hätte sein können, überblendet werden, raubt ihr das Mitgefühl. Charlotte Rampling kämpft diesen Zweifeln, diesem angegriffenen Stolz mit ihrer körperlichen Geradlinigkeit entgegen. Mit ihrer Stimme, die so wunderbar tief und trotzdem glasklar ist, spricht sie eindringlich Vernünftiges aus, und doch kann Kate das Gefühl nicht wegreden, dass ihre Identität aus den Fugen gerät. Geoff wollte Katya und hat nur Kate bekommen - mit ähnlichem Namen und ähnlicher Haarfarbe. Kate muss gegen ein Alter Ego kämpfen, das sie nie kennengelernt hat, und kann deshalb nur gegen ihre eigenen Untiefen antreten.
Das Drehbuch zu 45 Years basiert auf der Kurzgeschichte In Another Country von David Constantine, und Haigh hat sich die Charakteristika der literarischen Form sehr geschickt zunutze gemacht und einfühlsam weiterentwickelt. Der kurze und klar gesetzte Erzählzeitraum bietet einen festen Rahmen für die emotionalen Feinheiten, die sich in ihm hin- und her entwickeln und von denen wir ahnen, dass sie auch am Ende nicht wieder stillstehen werden. Das Ereignis, das die Leben der Helden aus den Fugen bringt, ist mehr symbolisch als konkret und deshalb umso mächtiger. Keiner weiß, wie Katya wirklich aussieht, wie sich die Landschaft um sie herum in den letzten Jahrzehnten verändert hat, wie Geoff sich wirklich fühlen würde, wenn er die Reise zu ihr anträte. All das ist zur Spekulation freigegeben, an der das Paar sich abarbeitet und die es mit persönlichen Projektionen vermischt.
Die Präsenz der Vergangenheit zeigt Haigh in den unterschiedlichsten Facetten und lässt seine Figuren mit anderen Versionen ihrer selbst zusammenprallen. Der junge Geoff, der Eifersüchtige, der Liebhaber, der Kollege - die naive Kate, die Verliebte, die potenzielle Mutter, die zweite Wahl. Identitäten, die das Gefühl füreinander verloren haben, aus dem Gleichgewicht geraten sind, das sie 45 Jahre zusammengehalten hat. Die Kamera ist dabei nah dran. Immer bereit für die nächste Entwicklung wartet sie hinter Ecken, schaut durchs Fenster und will sich auch der Dunkelheit nicht ergeben. Sie lässt sich nicht täuschen - auch nicht von hellen Scheinwerfern, schönen Kleidern und ehrlichen Tränen. Charlotte Rampling gibt sich ihr hin und offenbart Momentaufnahmen, die in ihrer feinen Spontanität endgültig wirken. Der Zuschauer weiß es besser.