Sarah Polley entblößt in einem intimen Familenporträt ihre Seele und zelebriert dabei die Kunst des Erzählens.
Sarah Polley (Take this Waltz) ist Regisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin, oder kürzer gesagt - Geschichtenerzählerin. In ihrem Dokumentarfilm Stories We Tell befasst sie sich mit genau diesem titelgebenden Thema - als Art der emotionalen Verarbeitung, Erinnerung und auch als Grundlage aller menschlichen Sinnstiftung. Im Zentrum der Geschichte steht diesmal allerdings eine Figur, die selbst nichts mehr erzählen kann - Polleys vor über 20 Jahren an Krebs verstorbene Mutter. Rund um diesen Geist, der in alten Videoaufnahmen viele Gesichter findet, drapiert die Regisseurin sämtliche Personen, die einen Platz im Leben ihrer Mutter hatten und sie nun durch ihre Erzählungen wieder zum Leben erwecken sollen.
Filmproduktion als „Investigation"
Der Film beginnt mit einem berührenden, von Polleys Vater geschriebenen und gesprochenen Text über das vermeintliche Sujet: „When you're in the middle of a story it isn't a story at all but only a confusion. (...) It's only afterwards that it becomes anything like a story - when you are telling it to yourself - or someone else." Diesen Gedanken benutzt Polley von nun an als Leitmotiv, um die Figur ihrer Mutter dem Zuschauer und sich selbst nahezubringen. Sie versammelt ihre Geschwister, ihren Vater und ein paar alte Freunde, um sie in Form von Interviews in den Film zu integrieren. Dabei legt sie zunächst weniger Wert auf die Fragen selbst als auf den Entstehungsprozess des Gesprächs. Polley zeigt, wie die Beteiligten sich ihren Platz aussuchen, wie sie ihrer Nervosität Ausdruck verleihen und welches Verhältnis sie zu der Regisseurin haben. All diese Umstände verändern den Blick auf die Antworten, die im weiteren Verlauf gegeben werden.
Sarah Polley ist in ihrem Film nicht nur Erzählende, sondern gleichzeitig ein Gegenstand der Erzählung. Die arrangierten Gesprächssituationen mit ihren Geschwistern und ihrem Vater sind in diesem Fall deshalb nicht nur stilistisches Mittel, sondern auch Teil der Geschichte. In Gesprächen solcher Art am familiären Esstisch entstand in der Vergangenheit die Grundlage für alles, was nun untersucht und teilweise in Ansätzen reproduziert werden soll. Auf Nachfrage ihres Vaters bezeichnet Polley die Filmproduktion als „Investigation". Unschlüssig, wie ein fertiges Endprodukt aussehen sollte, begann sie mit der Arbeit daran, und auch wenn der Zuschauer jetzt ein durchdacht editiertes Ergebnis betrachtet, gelingt es der Regisseurin, dieses Gefühl der anfänglichen Unsicherheit zu vermitteln.
Das Konglomerat der Erinnerungen an die Mutter scheint zunächst ein stringentes Bild einer Frau zu zeichnen, die ein Leben voller Freude, Energie und Tatendrang führte und diesem vor der Zeit entrissen wurde. Der Kern der Zwiebel wird von Loyalitäten, Erwartungen und dem Bedürfnis, das Private zu wahren, geschützt, doch indem Polley die Beteiligten, allen voran sich selbst, aus der Komfortzone scheucht, kommen nach und nach immer neue Schichten zum Vorschein. Dabei geht es nicht darum, „Geheimnisse" aufzudecken, um am Ende bei einer Form von Wahrheit anzukommen - ganz im Gegenteil. Es wird schnell klar, dass es vor allem wichtig ist zu verstehen, dass sich jede dieser Schichten durch die Person, die sie betrachtet, grundlegend verändert. Dieselben Videoaufnahmen der Familie werden mehrmals gezeigt und sehen doch mit jedem Erzähler und in neuem Zusammenhang komplett anders aus. So wird der Zuschauer auf ein weiteres Element der filmischen Herstellung aufmerksam gemacht. Die bewusste Vorführung der Montage schafft dabei Distanz zum Film selbst und gleichzeitig Zugang zu seinem Thema: dem menschlichen Bewusstsein und den verschiedenen Formen von Erinnerung.
Versionen einer Familiengeschichte
Eine Freundin sagt über Polleys Mutter, sie habe immer über die Dinge geredet, die sich gerade in diesem Moment in ihrem Leben abspielten und beim Zuhören keine Fragen offen ließen. Tatsächlich sei das aber immer nur ein kleiner Teil der ganzen Geschichte gewesen. Stories We Tell ist in einem Augenblick ein Kampf gegen diese universelle Tatsache, die eben für alle Geschichten gilt, und im nächsten eine zärtliche Huldigung dieses Umstands. Mit dem Gedanken, dass eine Interpretation von Persönlichkeiten und Beziehungen nie zu einer finalen Erkenntnis führen kann, scheinen sich alle Beteiligten abgefunden zu haben - mit einer Ausnahme. Der Liebende, dessen gemeinsame Geschichte mit Polleys Mutter gezwungenermaßen schon früher und auf eine abruptere Art und Weise endete, hält mit aller Kraft an dem fest, was er für sich selbst als Wahrheit definiert hat. In seinem rührenden Bestehen darauf, dass die Geschichte „seine" sei, bildet er den Gegenpol zu Polley selbst, die verbissen versucht, so viele Perspektiven wie möglich unterzubringen, um der vergangenen Realität am nächsten zu kommen.
Beide Ansätze sind zum Scheitern verurteilt, auch wenn man das nicht als solches bezeichnen kann. Eine Geschichte besteht aus unzähligen Erinnerungen und verändert sich organisch mit dem Erzähler selbst. Stories We Tell ist nun Sarah Polleys Version von einer ganz bestimmten Familiengeschichte. Mit jedem Zuschauer, der sich ihren Film anschaut, wird eine weitere entstehen. Es ist aber die Art der Präsentation, die diesen Prozess bewusst macht und die ewige menschliche Suche nach Antworten trotz aller Unwägbarkeiten und Frustration als zentralen Teil unserer Individualität feiert und uns auf sanfte Art ermutigt, niemals damit aufzuhören.