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Tugend 2.0: Ehrlichkeit vs Höflichkeit | Ihr Online-Magazin - clack.ch

Man weiss schon alles, bevor mans hört.

Jeder kennt diesen peinlichen Moment des enttäuschten Schweigens, wenn man gerade begeistert eine Geschichte erzählen will, aber mittendrin von seinem Gegenüber mit den Worten "Ja, weiß ich schon. Hab's bei Facebook gesehen" unterbrochen wird. Dabei ist es vollkommen egal, ob es um den tollen Konzertbesuch am Vorabend, den schlimmen Wasserschaden in der Küche oder neue Schuhe geht.Die Frage dahinter ist immer: wie verhält man sich korrekt? Hört man sich die Geschichte trotzdem noch mal persönlich an und simuliert Interesse, als wüsste man das alles noch nicht? Einfach, weil es die Höflichkeit gebührt? Oder gibt es die Möglichkeit, jemanden mit ehrlicher Entschuldigung zu unterbrechen, um ihn nicht zu verletzen? Quasi als Kompliment verpackt, wie „Ich lese ja immer alles von dir bei Facebook, weil wir auch in echt befreundet sind"? Natürlich ist das mit dem doppelten Infoaustausch nur eine Beispielsituation, die sicherlich oft vielschichtiger ist. Schließlich kann man bei Facebook munter posten "Yeah, endlich mal wieder eine Zigarette danach geraucht!", aber seiner besten Freundin will man darüber hinaus unter vier Augen trotzdem alle schmutzigen Details zum Mann dahinter verraten. Nichtsdestotrotz geraten wir neuerdings durch soziale Medien immer wieder in Entscheidungsnot zwischen den beiden Tugenden Höflichkeit und Ehrlichkeit. Und Notlügen sind alles, nur keine Dauerlösung. Mitspielen oder auflehnen? Unsere permanente digitale Daueranwesenheit und die damit suggerierte Allwissenheit werden immer mehr zur Belastungsprobe. Nicht nur zwischen Freunden, auch zwischen Arbeitskollegen oder mit Date-Bekanntschaften. Klar ist jeder selber Schuld, wer seinen Vorgesetzten oder neuen Flirt ohne Nachdenken bei Facebook, Twitter, Instagram oder Whatsapp addet. Allerdings kommt man auch kaum mehr drumherum. Die Frage ist daher nicht, ob man beim großen Social-Media-Spiel mitmacht. Die Frage ist vielmehr, zu welchen Bedingungen. Insbesondere die moralischen Werte verwässern da leider immer mehr. Täglich werden wir duzende Male zu Entscheidungen gezwungen, wenn uns jemand bei Facebook eine Nachricht schreibt und wir schon beim Öffnen genau wissen, dass das gleich ein „gelesen um 14:33 Uhr"-Häkchen aufploppen wird. Das gleiche bei Whatsapp oder iMessage. Wir können eigentlich nicht leugnen, dass wir etwas gelesen haben. Doch wie höflich müssen wir beim Antworten sein? Wie ehrlich kann man Mails oder Anrufe ignorieren, wenn jedem Beteiligten klar ist, dass unsere Smartphones selten länger als 30 Minuten unberührt irgendwo liegen? Wie unhöflich ist es heutzutage noch, einen Tag oder gar mehrere Tage auf eine erkennbar gelesene Nachricht nicht zu reagieren und dann mit einem „Hatte keine Zeit" oder „Hab vergessen, zu antworten" zu entschuldigen, dass man womöglich einfach keine Lust dazu hatte? Es wird immerzu schwerer, bei unserer momentanen Kommunikationsweise ein höflicher und ehrlicher und dabei ungestresster Mensch zu bleiben. Unterbewusst wissen wir, dass es schlicht unhöflich ist, Anrufe oder Nachrichte zu ignorieren. Aus Konfliktscheu, aus Überforderung, aus Desinteresse oder aus Genervtheit tun wir es dennoch. Und würden uns sicher in 99 Prozent aller Konfrontationen statt mit einem ehrlichen „Sorry, hatte keine Lust, ranzugehen" mit einer lapidaren Ausrede wie „Mein Akku war alle" aus der Affäre ziehen. Wann fing das eigentlich an? Alles legitim! Was jedoch nervt ist die sich eingeschlichene Verweichlichung der alten Tugenden, die offline und online nicht mehr gewichtig sind. Abgesehen vom inflationär benutzten „Gefällt mir"-Button, der berechnend und gezielt und oft auch einfach ohne nachdenken aktiviert wird, bieten Dienste wie „tinder" auch einfach viel Spielraum für unmoralisches Handeln. Es ist total unhöflich, einen Mann wegen eines unvorteilhaften Fotos als sexuell uninteressant abzustempeln. Und es ist total unehrlich, mit einem geschönten Profilfoto sexuelle Aufmerksamkeit zu erhaschen. Tja, und nun? Es gibt keine wirkliche Lösung. Aber wir können anfangen, uns bewusster zu machen, welche Werte wir in unserem Leben kultivieren möchten. Ein Fake-Profil bei Facebook mit unehrlichen Likes und simulierten Nettigkeiten jedenfalls wird nicht auf Dauer für Zufriedenheit sorgen. Und wer sich immerzu stresst und auf alles immer sofort reagiert, der wird nur noch unruhiger und seinen vielen Gegenübern immer weniger gerecht. Das einzig wirklich beruhigende an der Frage zwischen Ehrlichkeit vs. Höflichkeit ist jedenfalls, dass wir uns nicht wirklich für oder gegen eine Tugend entscheiden müssen. Manchmal gibt es auch die goldene Mitte. Wenn das nächste Mal wieder ein Freund eine Story erzählt, die man schon Tage vorher bei Facebook gelesen hat, könnte man einfach dazwischenrufen, dass man da „doch schon längst ‚Gefällt mir' geklickt" hat. Und hinterherschieben: „Hast du das etwa nicht gesehen?"

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