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Die Liebe zum Fussball(er) | Ihr Online-Magazin - clack.ch

Boygroup der anderen Art.

Mit 16 Jahren war ich verliebt. Es glich eher einer schüchternen Verehrung, weswegen ich es trotz des herrlichen Sommerwetters vorzog, im heimischen Wohnzimmer zu hocken. Was auch daran lag, dass viele meiner damaligen Freundinnen meine Bewunderung nicht ganz nachvollziehen konnten: Er war deutlich älter als ich, hatte blonde Löckchen, zusammengekniffene, schmale Augen und er war Engländer. Alan Shearer. Stürmer der englischen Nationalmannschaft. Golden Goal. Three Lions. Hoffnungsträger, den Traum von 1966 zu wiederholen. Ich muss zugeben, dass mein Interesse bei der Europameisterschaft 1996 nichts mit fundiertem Wissen zu tun hatte. Trotzdem schnitt ich vier Wochen lang aus den beiden lokalen Tageszeitungen alle noch so kleinen Spielberichte über „meine Engländer" aus, um sie geduldig mit Prittstift in ein leeres, liniertes Schulheft zu kleben. Ich weiß noch, dass ich es von außen mit orangefarbener Pappe verstärkte, weil es voll lauter grobkörniger Schwarz-Weiß-Fotos immer dicker wurde und ich gerade so bis zum Finale alles unterbringen konnte. Highlight meines damaligen Fanseins waren jedoch zwei Dinge. Ich bestellte die erste und einzige Autogrammkarte meines Lebens mit einem beigelegten, frankierten Rücksendeumschlag. Alan Shearer, mit Geheimratsecken und schmallippigem Grinsen, traf leider erst im Winter ein, als meine Zuneigung schon etwas abgeflaut war.

Aber auf meinem Regal im Kinderzimmer stand er immer noch, verstaubt, neben den anderen beiden Lieblingsspielern. Steve McManaman, ein großer, schlaksiger Typ mit braunen Locken, und natürlich dem ultimativen Skandalspieler "Gazza". Ich hatte neben dem aufmerksamen Fussball schauen nämlich gebastelt. Mit unserem Kopierer hatte ich - das Internet gab es ja noch nicht - die Köpfe von Shearer, McManaman und Gascoigne vergrößert und dupliziert. Aus Draht hatte ich eine Art Skelett gebastelt, auf das ich selbstgemalte Schuhe und Fussballtrikots klebte. Man muss sich das als eine Art zweidimensionale Figur vorstellen. Meine englischen Drahtmännchenspieler steckte ich in ein Schaumstoffbrett, sehr zum Amüsement meiner Familie. Dass ich nach meiner Take That-Boygroup-Phase durch Robbie Williams Fussballliebe den ganzen Tag die Lightning Seeds mit ihrem "Three Lions" hörte, war im Nachhinein gesehen natürlich wirklich extrem albern. Aber nichtsdestotrotz war ich das, was man einen leidenschaftlichen Fan nennen kann. Ich trug den ganzen Sommer lang ein Polyester-Shearer-Trikot, das mir meine Eltern aus dem Italienurlaub mitgebracht hatten. Ja, ich wurde ausgelacht. Aber es stärkte auch mein Selbstbewusstsein, nicht mit dem Strom zu schwimmen.

Die Formel für attraktiven Fussball Als ich 18 Jahre alt war fuhr ich sowieso mit meinem ersten Auto durch den Ort, in dem ein... Mika Hakinnen-Poster klebte. Ja, damals fuhr ich auf Formel 1 und einen blonden Finnen ab und interessierte mich von da an eher für Autosport, als für Fussball. (Vielleicht ist übrigens diese Tatsache das wirklich peinlichste Geständnis dieses Textes.) Im Jahr 2006 - Formel 1 war inzwischen für mich vorbei - war ich mit einem HSV-Fan liiert. Er war selbstredend riesiger Deutschland-Fan, was meine alte Antipathie wieder hochsteigen ließ. Weil ich mich schon zehn Jahre zuvor gefragt hatte, wieso man eigentlich für Deutschland sein muss, nur, weil man Deutscher ist? Und in diesem Fall kam dazu, dass ich mich fragte, wieso man für Deutschland Daumen drücken muss, nur, weil das Turnier in Deutschland ausgetragen wird? Also rebellerierte ich, was nicht schwerfiel. Zumal es einen Spieler außerhalb der deutschen Mannschaft gab, der mir auf Anhieb super gefiel: Fredrik Ljungberg, alter Schwede! Damals wohnte ich in Hamburg und rannte sofort auf die Reeperbahn, um mich in einem Souvenirshop mit einer Schweden-Flagge und Accesoires einzudecken. Die Flagge war so breit wie mein damaliger Balkon, weswegen sie gleichzeitig als prima Sichtschutz fugierte. Mein Freund hasste sie und mich und verstand mein offen ausgelebtes „Anti-Deutschsein" nicht. Beim Public-Viewing mit seinen Freunden beharrte ich dennoch eisern darauf, dass „meine Schweden" siegen würden, was sie nicht immer taten, aber immerhin immer gutaussehend vom Platz schlichen. Wandel der Attraktivität auf dem Platz Am Ende wurde eine Mannschaft Weltmeister, die ich bis dahin nicht wirklich im Fokus gehabt hatte: Italien. Mit dem gigantischen und beinahe furchteinflößenden Torhüter Gianluigi Buffon. Bester Spieler des Turniers war der nicht minder gefürchtete Zinedine Zidane, auch nicht klassisch hübsch, aber anziehend durch seine Unerschrockenheit, die ihn zum besten Spieler der WM machte. Nach Jahren der blonden, bubihaften Jungs wie Shearer und Ljungberg fesselten mich zunehmend die markanten Kerle, solche Querschießer-Typen und rebellische Abenteurer, die allesamt nicht ins Bild des smarten Schwiegersohns passten und alles andere als die netten, deutschen Jungs von Nebenan darstellten. Und - da ich ja vor allem für Schweizer Leser schreibe - bei der EM 2008 in eurem Land und in Österreich haderte ich sehr. Meine früheren Engländer hatten sich peinlicherweise nicht mal qualifiziert... Erneut einfach Deutschland anzuhimmeln lag mir immer noch zu nah und mit zunehmend beflaggten Autos fand ich das lächerlich. (Trotz meiner früheren Finnen-Flagge im Auto.) Also schaute ich mich um. Mir fielen eure Spieler mit aufregend klingenden Namen wie Johnny Leoni, Tranquillo Barnetta, Valon Behrami, Pirmin Schwegler oder Diego Benaglio auf, doch irgendwie funkte es nicht richtig zwischen uns. Bei der WM schlug mein Herz soweit ich mich erinnere für keine konrete Mannschaft. Ohne Leidenschaft ist alles nichts Aber nun läuft die WM 2014 in Brasilien. Da ich innerhalb der vergangenen vier Jahr zweimal in Italien war und seitdem regelrecht davon besessen bin, irgendwann dahin auszuwandern oder mir zumindest ein Sommerhäuschen dort zu kaufen, fällt mir die Wahl meines diesjährigen Favoriten nicht schwer. Bei kernigen, bärtigen Casanovas wie Andrea Pirlo geht mein Herz auf und ich bin beeindruckt, dass Ur-Gestein Gianluigi Buffon immer noch dabei ist. Ein Fels in der Brandung der Squadra Azzurra, wie meine geliebte Amalfiküste! Vielleicht ein Zeichen, eine letzte Chance, noch mal genauer hinzuschauen, dachte ich also.

Immerhin waren diese Kerle bereits viermal Weltmeister, 1934, 1938, 1982 und eben 2006, als ich noch auf die niedlichen Schweden stand. Nun aber trumpfen sie mir harten Spielern wie Mario Balotelli auf. Sie werden sich gegen Wayne Rooneys Pitbubis durchbeißen wie durch Pasta Al-Dente. Sie werden keine klassischen Schönlinge abgeben, die man sich ausschneidet und pubertär in Schulhefte klebt. Sie werden keine 2-D-Figürchen sein, sondern hochmotivierte 3-D-Ragazzi mit Peperoncini-Pässen. Allora, ich drücke für "Gli Azzurri", "unsere Blauen",alle Daumen. Mein Herz pocht. Es wird italienische Lebensfreude im leidenschaftlichen Brasilien sein, wogegen unterkühlte Engländer keien Chance haben. Dennoch werde ich nicht umhin können, mir in den kommenden Wochen sehnsüchtig "Three Lions" anzuhören. Oh, und eins noch. Den Deutschen, für die ja bekanntlich auch viele Schweizer jubeln, wünsche ich natürlich auch alles Gute! Möge der Bessere gewinnen. Hauptsache, man hat einen Favoriten. Denn sonst ist einfach jedes Spiel unendlich öde, so attraktiv die Spieler auch aussehen mögen.

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