Vielleicht, dachte ich vergangene Woche, habe ich das Geheimnis gelüftet, wieso ich jahrelang ein „glücklicher Single" war. Und genau in dem Moment, wo ich das durchschaute, widerte mich mein eigenes Verhalten an. Die Erkenntnis dazu kam mir an diesem verregneten Nachmittag, als ich nach Ewigkeiten mal wieder eine dieser unnötigen, wahnsinnig verruchten, Zigaretten danach in meinem Bett paffte. Der friesisch blaue Porzellan-Aschenbecher meiner Oma ruhte auf dem behaarten Oberkörper eines Mannes, der mich anschaute und skeptisch an seiner Zigarette zog. Mehrere Dinge führten in diesen Minuten dazu, dass mein Herz unruhig schlug und ich ungewohnt sentimental wurde. Ja, ich musste natürlich auch an meine Oma denken, der nicht nur sein Vollbart gut gefallen hätte. Prasselnder Regen am Fenster, perlender Weißwein im Bett, prickelnder Sex, ja, ich weiß, an dem Tag schwebte viel verklärte Romantik im Zimmer. Aber statt wie sonst diffus im Hormonrausch einen Mann zu idealisieren, wurde mir schlagartig bewusst, dass was ich hier gerade getrieben hatte, alles andere als ideal war. Wieso liegt er hier in meinem Bett und wir haben nichts als großartigen Sex, fragte ich mich. Wieso war ich vor einer Woche mit einem anderen Mann im Theater und danach in einer Weinbar, aber nicht mit ihm hier? Wieso habe ich vor wenigen Tagen mit einem noch anderen Mann Bier an der Spree getrunken und danach in einem Club getanzt, aber nicht mit ihm hier? Wieso saß ich mit einem anderen Mann abends beim Italiener und lief danach Arm in Arm durchs nächtliche Berlin, aber nicht mit ihm hier? Wieso schicken mir andere Männer per SMS oder Facebook-Messenger „Küsse" und Avancen, aber ich will eigentlich nur ihn hier?
Offenbar habe ich in den vergangenen Jahren die Kunst kultiviert, eine Horde sogenannter Projektionsopfer um mich zu scharen, die alle meine Bedürnisse, Sehnsüchte und Erwartungen an Männer und die Liebe erfüllen. Sie funktionieren wie Platzhalter in Zeiten des Alleinseins. Und ich brilliere in meiner Rolle als „glücklicher Single", weil ich mich nicht unsichtbar fühlen muss, sondern, ganz im Gegenteil, für viele Männer sehr präsent bin. Vielleicht, ohne Überheblichkeit, sondern mit beschämter Ehrlichkeit gesprochen, habe ich jahrelang wie eine Theaterregisseurin mein Ensemble von Projektionsopfern bespaßt. Sie alle wollten ihre Rollen mit Bravour meistern, aber nun meldet sich der Intendant in mir. Es gibt einen dramatischen Fehler im Stück. Ursprünglich war nur eine männliche Hauptrolle zu vergeben, doch um allen zu genügen und mich selber aus der Verantwortung einer nachhaltigen Entscheidung zu ziehen, habe ich kurzerhand alle zu Protagonisten gemacht. Ja, die Souffleuse in mir schüttelt auch den Kopf über diese seichte, vorhersebar oberflächliche Inszenierung. Und die sah bisher so aus: Es gibt Männer, denen ich nachts schreiben kann, wenn ich einsam im Bett liege und mich nach Zuneigung und Wärme sehne. Obwohl wir uns teilweise nie persönlich begegnet sind, sie anderweitig liiert oder zumindest irgendwie unerreichbar, wird es niemals wirklich intimer zwischen uns, als zwischen den Zeilen. Es gibt Männer, mit denen ich widerrum wunderbare Sachen unternehmen kann. Wir begleiten uns gegenseitig auf Konzerte oder in schicke Restaurants, stürmen nachts Falafelläden oder verrauchte Eckkneipen, trinken Schnaps und teilen uns Taxis, Rechnungen und Kippen. Es gibt Männer, mit denen ich stundenlang telefoniere, ihr Leben analysiere und die mich freundschaftlich in meine Schranken weisen oder einfach fragen, wie es mir wirklich geht. Es gibt Männer, die mir Geschenke machen oder über Kurztrips nach Paris sprechen, die mir aufmerksam Links zu Artikeln oder echte Büchern schicken, die mir handgeschriebene Briefe in die Post werfen und sofort persönlich vorbeikommen würden, wenn ich sie nur einladen würde, was ich selten tue, um keine falschen Hoffnungen zu schüren. Es gibt folglich genügend Männer, auf die ich meine vielschichtigen Bedürfnisse projizieren kann und auch darf, weil sie amüsiert mitspielen und ich ebenfalls eine Projektionsfläche für ihre Begehrlichkeiten biete. Nur wenige ziehe ich ernsthaft für Liebe in Betracht und die meisten dieser Lückenfüller begnügen sich damit, mich temporär in ihr Leben zu quetschen, statt im ihr Bett. Ich halte gern als Fantasieprojektion her und bin eine unerreichbare, nicht wirklich ernstzunehmende Frau. Genau das, diese unverbindliche Dauerverblendung, wurde mir jetzt bewusst, widert mich an. Dass ich mich seit Jahren über meine Projektionsopfern amüsiere, aber erst jetzt erkenne, was für ein lächerliches Opfer ich selber eigentlich bin. Weil ich keinen dieser Männer jemals lieben werde. Weil mich keiner dieser Männer jemals lieben wird. Als ich also in meinem Bett lag, an diesem entspannten Nachmittag, wo ich diesen einen Mann lange nicht mehr gesehen hatte, da hatte ich die Stimme meiner Oma im Kopf. Sie hätte kopfschüttelnd, in tiefstem Berlinerisch, gesagt „Mensch, Kleeeene! Es gibt für jeden den eeeenen Mann da draußen, der all' deine Träume erfüllen würde. Wie so'ne One-Man-Schau! Einer für alles, statt alle für nüscht!" So oder so ähnlich hätte sie es gesagt. Und nach sieben Jahren Singlesein muss ich wirklich sagen, dass ich langsam müde werde, meine Energie, meine Zuneigung, all das Wertvolle und Wahrhaftige also, auf so viele unterschiedliche Männer zu verteilen. Wieso tue ich das? Wieso splitte ich meine Liebe auf? Wieso begnüge ich mich mit kalten Liebelei-Häppchen, statt einer magenwärmenden Portion Liebe? Wirklich nur, weil diese ganzen Projektionen in Summe weniger enttäuschend sind, als auf ein Pferd zu setzen? Ziehe ich ernsthaft vor, auf eine direkte Blendung zu verzichten, weil eins meiner Projektionsopfer immer flirtwillig ist oder Zeit hat und ich so garantiert meine Dosis an Komplimenten oder Aufmerksamkeiten bekomme? Scheiße, ich muss aufhören, mein Geliebtfühlen und meine Liebeswürdigkeit nur zu projizieren. Weil meine Gefühle nur noch flackern, statt zu brennen.
Mache ich so weiter, dann bin ich noch mit 50 Jahren ein „glücklicher Single". Ich werde ganz bestimmt weiterhin problemlos Männerbekanntschaften pflegen, auf die ich all meine Sehnsüchte, Träume und Wünsche projizieren kann. Es wird immer Männer geben, die mit mir ausgehen wollen oder nach Paris fliegen und denen ich ohne Zögern in der Öffentlichkeit die Hand um die Hüfte lege und mit denen ich „Pärchen spielen" kann. Es wird immer Männer geben, die mich nachts kontaktieren, mir Nacktfotos oder Briefe schicken und die mich anrufen, wenn sie Rat bräuchten oder einfach mal wieder meine Stimme hören möchten. Es wird weiterhin immer eine Handvoll Männer geben, die mich als Projektionsfläche für ihre sexuellen Fantasien benutzen dürften. Die ihre Alltagsleere mit mir füllen, die sich in einsamen Nächten oder langweiligen Meetings mit meiner Aufmerksamkeit vergnügen und die sich über meine Lebenszeichen freuen. Aber was, ich Opfer meiner eigenen Projektionen, fragte ich mich letzte Woche, war mit ihm hier? Wieso schubse ich nicht die ganzen halbherzigen Projektionsopfer aus meinem Kopf, weil sie alle niemals in mein Herz gehören? Wieso überlasse ich nicht ihm hier ganz alleine die Bühne? „Wie viele Frauen hast du heute per SMS gefragt, ob sie Lust auf Sex haben?", fragte ich ihn. Lächelnd beteuerte er, nach dem Aufwachen nur an mich gedacht zu haben. Morgens, nüchtern, an seinem freiem Tag, an dem er mit Blumen, Wein und Schokoladenpudding bei mir geklingelt hatte. Ich wollte es ihm glauben. Weil ich spürte, dass ich nur für einen Mann leuchten und brennen wollte. Ich realisierte, dass ich ebenfalls die einzige Frau sein möchte, die einem Mann ein Strahlen ins Gesicht zaubert. All das sagte ich jedoch nicht. Wir drückten unsere glühenden Zigaretten aus, ich stellte den Aschenbecher auf den Nachttisch und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Es regnete immer noch und die Abensonne versteckte sich müde hinter grauen Wolken. Während wir in meinem Bett dösten und ich auf meinem Handy meine Lieblingsarie von Puccini anmachte, war ich ein glücklicher Single. Zu meinem Erstaunen summte der Mann sogar leise mit, was mich rührte. Weil das Stück, O mio babbino caro, von einer unerfüllten Liebe handelt und von einer Frau erzählt, die ihren Liebeskummer im Zweifel im Fluss ertränken will. Wie in der Oper reicht es manchmal, wenn nur ein einziger Mensch auf der Bühne steht. Weil er präsent genug ist, den ganzen Raum zu erhellen und locker alle anderen in den Schatten stellt. Echte Lichtstrahlen mögen unberechenbar sein und brechen, aber sie bahnen sich auch bedingungslos ihren Weg. Projektionen sind dagegen nichts als gesteuerte Spiegelungen und ein Abklatsch der Realität. Und wer sich wie ich an Projektionsopfern statt echter Liebe wärmt, darf sich nicht wundern, wenn irgendwann der Vorhang fällt und die Bühne dunkel bleibt. Aber wie Leonard Cohen einst sang: „There is a crack, a crack in everything. That's how the light gets in." Und der nächste Akt mit diesem Mann kommt gewiss.
Headerfoto: Kainet via Creative Commons Lizenz!