Mal ehrlich, liebe Mädchen und Jungs: Wann habt ihr das letzte Mal jemanden vermisst? Ich meine: so RICHTIG. Wann seid ihr das letzte Mal sehnsuchtsvoll durch die Abendsonne gelaufen und habt euch danach verzehrt, ein winziges Lebenszeichen zu erhalten? Wann lagt ihr das letzte Mal im Bett, mit geschlossenen Augen, ohne weißleuchtendes Handydisplay in der Hand, und habt euch gefragt, wo der andere wohl gerade steckt? Wann seid ihr das letzte Mal morgens aufgewacht und habt vor dem Aufstehen verträumt darüber sinniert, wie es dem anderen wohl geht?
Und wann habt ihr dem anderen das letzte Mal die Gelegenheit gegeben, euch zu vermissen? Wann habt ihr ohne Taktik oder Spielchen einfach mal nichts bei Facebook gepostet, tagelang? Wann habt ihr mal nicht dauernd bei Twitter Denkanstöße oder bei Instagram schöne Fotos als Lebenszeichen hochgeladen? Wann wart ihr das letzte Mal entspannt genug, mit jemanden nicht bei Whatsapp oder via iMessage zu kommunizieren, sondern ganz klassisch via SMS, ohne Zeitstempel und Häkchen-Lesebeweise? Es ist lange, sehr lange, her. Denn all das wäre ja nicht damit getan, sich selbst nicht zum virtuellen Stalker zu machen. Es ist unvermeidbar, sich nicht vom Gegenüber ausspionieren zu lassen, auch, wenn sein Interesse natürlich total charming ist. Ja, es schmeichelt uns, dass er beim zweiten Date schon verrät, uns ausführlich gegoogelt zu haben. Weil es Interesse an uns bedeutet. Unser Herz macht einen übertriebenen Hüpfer, wenn der andere als allererster Facebook-Freund unser neues Profilfoto als Like absegnet und uns damit sagt, wie schön er uns findet. Und ja, dass er sofort antwortet, wenn wir schreiben oder sie stundenlang parallel online ist, obwohl es schon nachts um vier ist, aber sie wohl auch schlaflos vor Verliebtheit ist, ja, all das führt uns ... in den Wahnsinn. Nur leider nicht in die liebesnotwendige Sehnsucht. Ein vom Aussterben bedrohtes Gefühl, ein selten gewordenes Phänomen in Zeiten digitaler Dauerverfügbarkeit.
*Sind wir mehr als nur „enge Facebook-Freunde"?*Ohne diese rosarote Hingerissenheit, diese klebstoffartige Fasziniertheit und die naive Glorifizierung eines Menschen funktioniert es mit der Liebe aber doch nicht. Nur haben wir das vergessen, weil wir in unserer Informationssammelwut und unserem digitalen Ehrgeiz in Sekunden checken wollen, wie der andere tickt. Wo sie gerade ist. Wo er gestern war und was sie morgens für Musik gehört hat. Wir haben die Geduld an dem Tag in den Müll geschmissen, als wir das erste Mobiltelefon in den Händen hielten. Wir haben innerlich den Kampf aufgegeben, starke und in uns ruhende Persönlichkeiten sein zu wollen. Wir alle vergessen täglich mehrere Male, was es eigentlich bedeutet, Privatsphäre zu bewahren und einem anderen Menschen seinen Freiraum zu geben. Aber ihr versteht mich und deshalb genug der mahnenden Worte und klugen Parolen.
*Jetzt kommt eine Geschichte.*Im Frühling vor drei Jahren lernte ich einen neuen Mann kennen, über gemeinsame Freunde. Wir addeten uns unverbindlich bei Facebook, liketen hier und da ein paar Fotos und Posts und irgendwann mailten wir, stundenlang heimlich im Facebook-Chat. Er fragte nach einem Kaffee-Date, ich hatte drei Wochen später erst Zeit, bis dahin liketen wir weiter unsere Updates. Nach dem ersten Date folgte ein zweites und nach dem zweiten die erste Nacht. Er likete immer mehr bei mir, ich likete weniger bei ihm. Weil ich ahnte, dass auffällig wurde, wie sehr wir uns inzwischen gegenseitig gefielen. Er dagegen twitterte, kommentierte meine Posts und Fotos und teilte meine Musikvideos fröhlich weiter. Das schmeichelte mir, aber es fiel auch anderen auf. Erst wurden wir aufeinander angesprochen, dann wurden wir zusammen gesehen und dann war online immer sichtbarer, dass wir uns mehr mögen, als unsere anderen Facebook-Freunde. Ab dem Zeitpunkt mussten wir eine Haltung entwickeln und Stellung beziehen und damit selber wissen, was das denn nun eigentlich war.
*Social Media macht Liebe asozial*Genau da fing es an, unentspannt zu sein. Wo es bisher leicht und unbeschwert gewesen war, kam ein dramaturgischer Schwung ins gegenseitige Gefallen, der uns beide verunsicherte. Ja, was war es denn, das mit uns? Nur Sex, eine Affäre, was Ernstes, nur Spaß oder vielleicht nichts und alles oder einfach mehrere One-Night-Stands hintereinander? Das mit uns gefiel mir nicht mehr. Er begann unsere Verabredungen zu verschieben oder abzusagen, wurde unsicher. Ich begann zu taktieren, machte Vorwürfe, gab die starke Frau, wollte ihn sehen. Als ich vorschlug, dass er nichts mehr liken sollte, dislikete er alles bisherige und ich bekam ein schlechtes Gewissen, was mir überhaupt nicht gefiel. Absolut bescheuert, absolut kindisch und eben doch ein gravierendes Erwachsenenproblem. Denn der öffentliche Druck, das Beäugtwerden, das kritische Auseinandersetzen mit den nun immer weniger werdenden Likes, all das entzauberte alles. Es nervte uns beide und das Schlimme war, es war vollkommen unnötig. Weil es den Rest nichts angeht, wenn sich zwei Menschen kennenlernen wollen. Weil es die anderen nicht sehen müssen, dass beide auf Facebook bei einer Veranstaltung zugesagt haben. Weil es nur die beiden Menschen betrifft, wenn sie nachts um vier immer noch online sind und miteinander chatten wollen. Weil es egal ist, wenn sie gemeinsam in einem Restaurant sitzen und einer bei Foursquare einchecken will, ohne den anderen taggen zu müssen. Obwohl man daneben sitzt und sich merkwürdig ausgeschlossen fühlen könnte, was albern wäre. Weil es andererseits okay wäre, wenn jetzt gemeinsame Bekannte ins Restaurant reinkämen und einen zusammen am Tisch essen sähen. Weil unser Leben auf reinem Zufall basiert, aber es nicht ohne Grund den Beruf des Social Media-Strategen gibt. Wir alle atmen, leben, bedienen unsere Smartphones, Tablets und Macbooks. Wir alle machen unser Ding. Manchmal kollidieren dann zwei Welten und obwohl es verlockend wäre, geht genau das die Welt einen feuchten Kehricht an. Leben war nicht das, was passierte, als wir uns kennenlernten. Leben war das, was wir offline und online zusammen erlebten. Ich verstand, ansatzweise, wie sich Prominente fühlen, die kritisch beäugt von einer fremden Masse rechtfertigen müssen, was sie fühlen. Und ich merkte, wie ich fast paranoid und tough postete und online aktiv war, um dem Mann deutlich zu zeigen, dass ich nicht auf seine Zuneigung angewiesen war, falls es doch nicht mit uns klappte. Aber er war immer nur einen Klick entfernt von mir, vor vier Stunden zuletzt online, hatte meine Nachrichten vor 24 Minuten gelesen oder befand sich eine Straße entfernt. Es machte mich irre. Er begann zu nerven. Die Schmetterlinge wurden vom virtuellen Sturm vertrieben, der immer mehr aufkam. Ihr kennt das. Alle.
*Dass da was geht, geht niemanden was an*Deshalb tat ich nach einer weiteren Diskussion über uns zu einem Zeitpunkt, an dem ich selber nicht sicher war, was ich von ihm wollte oder mir von der ganzen Sache erhoffte, das einzig Richtige: Ich entfernte ihn aus meinen Facebook-Freunden. Ein Klick, der mich lächerliche drei Minuten Überwindung und einen schweren Seufzer seinerseits kostete. Danach löschte ich meinen Whatsapp-Account und entschied, ihm fortan nur noch iMessages ohne Lesebestätigung zu senden. Ich war nie wie er bei Twitter, Instagram oder Spotify aktiv, aber versprach mir selbst, ihm ab sofort nicht mehr zu folgen oder nach virtuellen Lebenszeichen zu gucken, wenn er sich mal einen Tag nicht gemeldet hatte. Erst verstand er meine strikte Abkehr unserer digitalen Freundschaft nicht und nahm meine Abgrenzungen persönlich. Dann jedoch notierte er meine richtige Emailadresse und rief ab und zu an. Einfach so, mitten am Tag. Wir verabredeten uns wie gehabt. Wir redeten wie gehabt darüber, wie unsere Tage waren. Wir lagen wie gehabt Arm in Arm im Bett, jedoch ohne dieses „Ach, ich hab übrigens gestern bei Facebook gesehen, dass du auch zu diesem Konzert willst?" - Blabla. Wir tauschten uns in echt darüber aus, was uns bewegte und was wir vorhatten. Natürlich bekamen wir über die unvermeidlichen gemeinsamen Freunde trotzdem am Rand mit, welche Artikel der andere kommentierte, denn uns gegenseitig zu blockieren wäre doch krass gewesen. (Für manche ist es jedoch auch eine Methode, vor allem bei ehemaligen Lieben, die ich nur wärmstens zum Entlieben empfehlen kann.)
*Sehnsucht kommt aus der Mode*Vielleicht mag das alles radikal wirken und ich bin so auch mit keinem neuen Mann verfahren. Dabei war das, was wir uns durch diesen Selbstschutz gegenseitig schenkten, etwas, was in der modernen Kommunikationsweise so verdammt schwer geworden war: Wir gaben uns gegenseitig die Chance, uns zu vermissen. Wir schürten Sehnsucht und wir ließen uns virtuellen Freiraum zum Atmen. Für ein paar Wochen, ungefähr sieben, klappte das ganz vorzüglich. Es war eine aufregende Zeit voller Unwissenheit, ein flirrender Frühling voller Begierde und Hingabe, an denen ich oft morgens alleine in meinem Bett lag, handylos, sehnsüchtig aus dem Fenster blickend und mich fragend, wie sein Abend gewesen war, ob er die Nacht durchgemacht hatte und wie es ihm wohl ging. Sonntage, an denen er mittags irgendwann anrief und mich sehen wollte, weil er nicht wusste, dass ich mit Freundinnen am See lag. Wochen, in denen er mit Kumpels in den Urlaub fuhr und mir von dort Fotos per Email schickte, weil ich sie ja bei Facebook nicht sehen konnte. Es war eine Zeit, in der er weiter sein Leben lebte und ich weiter mein Leben lebte und wir nicht dauernd virtuell überprüften, wie und ob der andere heute in unser Leben reingequetscht werden konnte.
*Wir müssen die Kontrolle über die digitale Kontrolle zurückgewinnen*Es ist nämlich gefährlich, von einen auf den anderen Tag alles stehen und liegen zu lassen für einen Menschen, der ins Leben platzt auf einer Privatparty von Freunden, an dem er einen an der Bierflasche nippend durch den Raum anschaut, mit diesem durchdringenden, dunklen, verwegen fesselnden Blick, dem man sich nicht entziehen kann. An einem Abend, an dem man spürt, dass etwas ins Rollen kommt, unaufhaltsam, dem man sich in der Realität nicht entziehen kann und was man aus vermeintlicher Vorsicht vielleicht erstmal online antesten will. Lächerlich, unnötig, lebenszeitverschwendend. Weil das, was zwei Menschen füreinander schwärmen lässt, sie gegenseitig körperliche Anziehung spüren lässt, was zu leidenschaftlichen Küssen und ehrlichem Interesse führt, niemals rein durch eine individuelle Social Media-Strategie überleben könnte. Aber das alles kann durch gewecktes Social Media-Interesse im Bekanntenkreis eingehen, unnötig, luftabschnürend und oft noch vor dem Zeitpunkt, wenn beide ihren Beziehungsstatus von Single auf „in einer Beziehung mit" ändernd. Sehnsucht reagiert höchst allergisch auf Taktik, auf Spielchen und Kontrollsucht und stirbt, wenn echtes Vertrauen durch Online-Nachgucken ausgetauscht wird.
*Das Ende der Geschichte*Dass der Mann am Ende des Sommers trotzdem wieder mit seiner Ex-Freundin zusammenkam, hatte mit all dem oben beschriebenen leider nichts zu tun. Es hätte trotz allem mit Liebe zwischen uns enden können, wäre ich im Gegensatz zu ihr bereit für eine ernsthafte Beziehung gewesen. Ich war seitdem eine Zeit lang nicht mehr bei Facebook. Seit ich vergangenen Sommer wieder dabei bin, sind er und ich wieder Facebook-Freunde. Allerdings schaue ich mir nur in melancholischen Momenten seine Chronik mit Fotos der beiden an, weil ich ahne, dass ich es hätte sein können, an seiner Seite nach New York, auf das Chilly Gonzales-Konzert oder an den Ammersee zu fahren. Vorgestern hat er mein neues Profilfoto geliket. Kurz war ich erschrocken, aber dann habe ich auf sein Profil geklickt. Als letztes hatte er ein eher sentimentales Musikvideo gepostet, nachts um halb eins. Ja, ich könnte jetzt vermuten, dass die Beziehung mit seiner Ex-Freundin in einer Krise steckt. Ich könnte spekulieren, ob sein Profilfoto-Like ein Flirtversuch war. Ich könnte in seinem Twitter Account schauen, ob er was zwischen den Zeilen geschrieben hat oder bei ihrem Instagram checken, ob sie glücklich aussieht. Aber ich tue es nicht. Ich lasse ihn mit ihr in Frieden leben. Offline und online. Besser suche ich mir einen neuen Mann, der wieder diese Sehnsucht in mir weckt, mich hinzugeben, ohne die Kontrolle über mein Leben zu verlieren.
Headerfoto: Soffie Hicks via Creative Commons Lizenz!