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"Der Jüngste, den wir angetroffen haben, war elf Jahre alt"

In Berlin bieten minderjährige Jungen sexuelle Dienstleistungen an. Das LKA startet eine Kampagne, um auf die Zwangsprostitution aufmerksam zu machen. Die Arbeit der Ermittler ist nicht einfach. Denn oft sind die Familien der Jungen involviert.


rbb|24: Frau Millert, Frau van Offern, das Landeskriminalamt der Polizei Berlin hat eine Präventionskampagne geplant, um auf die Zwangsprostitution minderjähriger Jungen im Großen Tiergarten und in Schöneberg-Nord aufmerksam zu machen. Was geschieht an diesen Orten?

Millert: 2017 wurde bekannt, dass im Großen Tiergarten minderjährige Jungen potenziellen Freiern recht offensiv sexuelle Dienste angeboten haben. Wir haben damals Ermittlungen aufgenommen, haben vor Ort Kontrollen durchgeführt und auch unser erstes großes Ermittlungsverfahren in diesem Zusammenhang eingeleitet. Dieses Problem besteht jedoch weiterhin. Wir ermitteln nach wie vor strafrechtlich wegen Zwangsprostitution, Menschenhandel und sexuellen Missbrauchs. Bei den Minderjährigen handelt es sich zumeist um Jungen aus Osteuropa, die hier in Berlin ihr Geld gezwungenermaßen mit Prostitution verdienen.

Wer zwingt sie denn dazu?

Millert: Die Jungen werden oftmals gezielt von ihren Familien nach Berlin gebracht, um mit der homosexuellen Prostitution zum Familieneinkommen beizutragen. In ihren Kulturkreisen gelten sie mit 14 Jahren bereits als erwachsen. Nicht selten kommt es vor, dass sie in diesem Alter schon heiraten und eine eigene Familie zu ernähren haben. Die Jungen sind nicht unbedingt homosexuell veranlagt.

Die Familienmitglieder, die die Jungen zur Prostitution zwingen, haben diese Tätigkeit früher oftmals selbst ausgeübt und so zum Familieneinkommen beigetragen.

Sylke van Offern, LKA Berlin Die Jungen werden also von der eigenen Familie zur Prostitution gezwungen?

Millert: Genau. Dies ist zumindest häufig so. Bei diesen Familien herrscht oftmals gar kein Unrechtsbewusstsein für ihr Handeln. Die Jungen selbst haben oft auch gar kein Opferbewusstsein. Die Prostitution ist für sie eine lukrative und normale Methode des Geldverdienens. Für die Jungen geht ihre Familie über alles. Das Schlimmste, was man ihnen antun kann, ist, sie von ihren Familien zu trennen und sie etwa in Kriseneinrichtungen unterzubringen. Sie wollen das nicht, sie haben gar nicht das Gefühl, dass man ihnen damit hilft. Ich würde deshalb auch nicht behaupten, dass die Jungen aus zerrütteten Familienverhältnissen stammen. Man kann sich schwer hineinversetzen von unserem Familienbegriff ausgehend. Unabhängig von den persönlichen Umständen handelt es sich bei diesem Verhalten aber um Zwangsprostitution und Menschenhandel und somit um schwere Straftaten zum Nachteil von Minderjährigen.

van Offern: Die Familienmitglieder, die die Jungen zur Prostitution zwingen, haben diese Tätigkeit früher oftmals selbst ausgeübt und so zum Familieneinkommen beigetragen. Sie wachsen in dieses Phänomen hinein und halten es für ein Stück weit normal und für eine gute Möglichkeit, um Geld zu verdienen

Wie alt sind die Jungen in der Regel und woher kommen sie?

Millert: Der Jüngste, den wir angetroffen haben, war elf Jahre alt. Das war im Rahmen des ersten Ermittlungsverfahrens 2017. Momentan liegt die Altersspanne zwischen 15 und 17 Jahren. Die Jungen kommen aus verschiedenen Ländern, aber hauptsächlich aus einer armen Region in Rumänien.

Wie sieht ihre Lebenssituation hier vor Ort aus?

Millert: Diese Familiengruppen sind reisende Gruppen, die nie lange in Berlin sind. Sie wohnen hier in Abrisshäusern oder in Zeltlagern in irgendwelchen Brachen. Die Fahrten von Rumänien nach Berlin erfolgen häufig organisiert. Es gibt private Busshuttles, die regelmäßige Fahrten übernehmen - von dem regionalen Schwerpunkt in Rumänien nach Berlin.

Wie kann es überhaupt sein, dass Zwangsprostitution von Minderjährigen mitten in Berlin stattfindet?

Millert: Zum einen, weil die Öffentlichkeit zu wenig über dieses Phänomen Bescheid weiß. Zum anderen, weil die Nachfrage existiert.

van Offern: Jedes Delikt ist einfacher begehbar, wenn die Sozialkontrolle fehlt. Berlin ist die größte Stadt Deutschlands. Wir sind eine liberale Stadt und finden das gut. Aber diese Haltung bringt natürlich auch negative Seiten mit sich. Manchmal schaut man eben nicht so genau hin. Wir wollen versuchen, genau das mit der Präventionskampagne zu verhindern. Wir wollen, dass Menschen genau hinschauen und uns Hinweise abgeben. Würden Menschen wissen, dass es sich bei diesen Jungen um Opfer sexueller Ausbeutung handelt, würden sie anders agieren. Deswegen ist es wichtig, sowohl die Zivilgesellschaft als auch die Freier-Szene für dieses Phänomen zu sensibilisieren. Manche Freier wissen mitunter gar nicht, dass sie gerade die sexuellen Dienste eines minderjährigen Opfers von Zwangsprostitution annehmen. Andere hingegen wissen sehr genau um die Lebensumstände der Jungen und nutzen diese aus.

Kinder werden zur Prostitution gezwungen und bieten diese sogar in aller Öffentlichkeit an. Das klingt so, als ob sich im Großen Tiergarten und in Schöneberg-Nord rechtsfreie Räume entwickelt hätten.

van Offern: Diese Aussage hat keine Grundlage in den Tatsachen. Wir führen regelmäßig Kontrollen durch und erzielen gute Ermittlungserfolge. Zudem können wir zumindest einen gewissen Verdrängungseffekt beobachten. Aber egal wie viel man kontrolliert: Straftaten können wir nicht immer verhindern. Eine hundertprozentige Unterbindung ist niemals möglich.

Die Polizei widmet der Zwangsprostitution von Minderjährigen also genug Aufmerksamkeit?

van Offern: Das LKA Berlin ist das einzige Landeskriminalamt in ganz Deutschland mit einem extra Kommissariat, das ausschließlich die sexuelle Ausbeutung zum Nachteil von Minderjährigen bekämpft. Die Polizei Berlin hat hier intern einen Schwerpunkt gelegt. Wir sind vergleichsweise gut aufgestellt und Vorreiter in der Bekämpfung dieses Phänomens. Gleichzeitig ist grundsätzlich anzumerken: Mit mehr Ressourcen - insbesondere personell - ist immer mehr möglich.

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