Sergej und sein Spezialgefährt: Vom Reisen lässt sich der Russe trotz seiner Behinderung nicht abhalten.
Sotschi (MOZ) Sergej Murawjow kann nicht laufen, stehen und auch nicht sitzen. Eine schwere, angeborene Muskel-Krankheit zwingt ihn auf ein handgefertigtes Rollbrett. Auf dem schwarzen Brett mit vier Rädern kann er sich nur auf dem Bauch liegend vorwärts bewegen. Dazu stützt er sich mit der linken Hand auf das Brett, hebt die Beine an und drückt sich mit der Rechten weiter vorwärts. Sergej sieht die Welt von unten. Selbstständig essen, trinken oder sich anziehen, das kann Sergej nicht - nur mit Hilfe einer Vollzeit-Betreuerin. Die Krankheit hat fast alle seine Muskeln gelähmt, außer sein Gesicht, das fast immer strahlt. Sergej ist kein Kind von Traurigkeit, er macht das Beste aus seiner Lage. Obwohl die Regierung für ihn sorgt, arbeitet er. Er engagiert sich sozial, singt auf der Straße und verkauft handgefertigte Postkarten.
Sein Handicap hat den Fußball-Anhänger nicht davon abgehalten, 1500 Kilometer aus Orjol im Zug ans Schwarze Meer zu reisen. Er hat Tickets für vier Spiele zum Sonderpreis von 1280 Rubel, umgerechnet knapp 20 Euro, erhalten. „Ich habe im Stadion keine Probleme gehabt", bestätigte Sergej nach dem Deutschland-Sieg. Helfer holten ihn von der Gepäckaufbewahrung vor dem Stadion mit einem Spezialfahrzeug ab, führten ihn bis zum Rang, wo er von zwei weiteren Helfern bis nach oben getragen wurde.
Sergej fährt über den Asphalt in Richtung Stadion. Wenn er so rollt, dann wackelt sein Kopf seitwärts. „Ich habe keine Angst, dass jemand auf mich drauftritt", sagt der 29-Jährige. Mit seinem Brett kann er scharf um die Kurven fahren und mehr Tempo als ein Fußgänger aufnehmen. Manchmal wirkt es, als würde er fliegen. Das hat er acht Jahre lang mithilfe eines Trainers im Internat gelernt.
Russland ist von Barrierefreiheit noch weit entfernt, es mangelt an Infrastruktur, es fehlt an Verständnis für Menschen mit Handicap. Das führt dazu, dass von vier Millionen erwerbsfähigen Behinderten in Russland nur jeder vierte arbeitet. Doch das Land unternimmt erste Gehversuche. Nach den Winter-Paralympics im 2014 in Sotschi hat es einen großen Schritt vorwärts gemacht, zur WM einen weiteren. Es gibt barrierefreien Zugang zu den Stadien, spezielle Plätze in den kostenlosen Zügen, den Shuttle zu den Städten und in den Stadien für Fans. Sotschi ist ein landesweiter Vorreiter, hier kann sich Sergej auf seinem Rollbrett fast vollkommen allein in der Stadt bewegen. „Nur die Marschrutka ist für mich ein Tabu", sagt er über die Mini-Busse. Dass nicht immer alles funktioniert und es am nötigen Know-how der Helfer fehlt, das beweisen Blogeinträge wie die der Organisation „Auf dem Rollstuhl ohne Grenzen" für die Onlinezeitung federalcity.ru, die die Barrierefreiheit in St. Petersburg prüfte. „Auch wenn es nicht wie in Schweden oder Dänemark ist, wird in Russland immer mehr für Behinderte getan", bestätigt Sergej. Er muss es wissen, denn engagiert sich in seiner Heimatstadt für Behindertenfreundlichkeit, steht landesweit mit Gleichgesinnten imAustausch.
In der Gesellschaft gibt es ein Umdenken. Dafür sorgte auch Julia Samajlowa. Die Sängerin, seit ihrem 13. Lebensjahr im Rollstuhl, hat Russland vor wenigen Wochen beim Eurovision Song Contest in Portugal vertreten. „Es gibt Leute, die nur schauen und nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen", sagt Sergej. „Aber immer mehr andere, die mir einfach helfen." Manche würden ihn sogar umarmen oder Selfies mit ihm knipsen. Aber es gibt auch welche, die über ihn lachen, weil sie so jemanden wie ihn noch nie gesehen haben.