Eine Woche nach Verkündung des Urteils im NSU-Prozess sind bis auf Beate Zschäpe alle Angeklagten auf freiem Fuß. Heute früh verließ Ralf Wohlleben die JVA München-Stadelheim. Rechtlich geht das wohl in Ordnung. Hinter den Kulissen gibt es allerdings Meinungsunterschiede zu einem Satz, den das Oberlandesgericht (OLG) München heute früh in einer Pressemitteilung formulierte:
„Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München hat mit Beschluss vom 17.07.2018 den gegen Ralf W. bestehenden Haftbefehl auf Antrag seiner Verteidiger mit Zustimmung der Bundesanwaltschaft aufgehoben."
Bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe stieß dieser Satz auf Widerspruch - wiewohl jedenfalls zutrifft, dass die Anklagebehörde sich nicht gegen die Haftentlassung Wohllebens stellte. Sie habe aber trotzdem keinesfalls „zugestimmt", heißt es in Karlsruhe. Vielmehr sei es so gewesen, dass die Bundesanwaltschaft einer Haftentlassung Wohllebens „nicht entgegengetreten" sei.
Man mag den Unterschied zwischen „Zustimmen" und „nicht Entgegentreten" für marginal halten. Aber dahinter steht wohl die Sorge vor unerwünschten Nebenwirkungen angesichts der heiklen Thematik. Weiter hinten in seiner Erklärung betont das Gericht unnötigerweise noch einmal, dass es ja nur dem Willen der Bundesanwaltschaft folge:
Mit seiner Entscheidung folgt der Senat insoweit der Einschätzung des Generalbundesanwalts in Karlsruhe, der eine weitere Sicherung des Verfahrens durch den Vollzug von Untersuchungshaft nicht mehr für erforderlich hält.
Das ist schon sehr defensiv. Und es passt damit zum Auftritt des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl vor einer Woche bei der Verkündung. Da wirkte er gehetzt und nervös. Immer wieder drohte seine Stimme in Heiserkeit unterzugehen. Er sprach leise und schnell. Zwischendrin zitterten seine Hände. Mehr als diese Äußerlichkeiten fielen mir aber seine teils absonderlichen Urteilsgründe auf.
So nannte er die „Ceska"-Mordserie immer wieder „antisemitisch" motiviert und setzte sich überhaupt vielfach mit Judenfeindlichkeit auseinander. Uwe Mundlos habe den „Multikulti-Schmelztiegel" in Deutschland gehasst. „Basierend auf dieser Einstellung" habe er ein Computerspiel geschrieben, in dem es darum gegangen sei, „Juden abzuschießen". Tatsächlich dürfte Uwe Mundlos ein Antisemit gewesen sein. Im NSU-Prozess stand aber keine einzige Straftat mit jüdischen Opfern zur Anklage.
Richter Götzl schilderte dann, ab 1996 sei habe es in der „Kameradschaft Jena" erste Diskussionen über Gewalt als politisches Kampfmittel gegeben, an denen auch Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt teilgenommen hätten. Die drei hätten das befürwortet. Es sei ihnen dabei um „antisemitische und staatsfeindliche Ziele" gegangen, meinte Richter Götzl. Um Aufmerksamkeit zu erregeben habe die Gruppe öffentlich provoziert, u.a. mit dem Aufhängen einer Puppe mit Judenstern an einer Autobahnbrücke.
Im Herbst 1998, einige Monate nach ihrem Abtauchen in den Untergrund, hätten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt ihre bürgerliche Existenz „weitgehend aufgegeben" gehabt und sich entschlossen, „als zusammengeschlossener Verband Menschen aus antisemitischen und anderen Gründen zu töten". Das klingt nicht unbedingt nach den Morden und Anschlägen des NSU. Deren Opfer waren Türken oder Türkischstämmige und ein mit einer Deutschen verheirateter Grieche. Die meisten Opfer dürften Muslime gewesen sein, einer ein Christ. Warum hat Richter Götzl es nicht geschafft, die „anderen Gründe", um die es ja wohl vor allem ging, irgendwie näher zu bezeichnen?
Im folgenden sprach Götzl dann von „ideologisch motivierten Anschlägen" oder einer „ideologischen Grundhaltung" Zschäpes und ihrer Komplizen. Es habe eine Art Masterplan gegeben. Der Zweck allen Tuns habe darin bestanden, ein „glaubhaftes Dokument" zu erstellen, in dem die Dreiergruppe „den Staat als hilflose Institution vorführen" und ein „Vorbild für andere Rechtsradikale" liefern sollte.
Die Morde schilderte Götzl dann als Episoden des zu erstellenden „Dokuments". Es klingt gerade so, als habe eine Filmcrew ihr Drehbuch in die Hand bekommen und dann Szene für Szene nicht abgedreht, sondern abgemordet. Götzl bietet damit auch eine Antwort auf die Frage, warum die NSU-Terroristen sich jahrelang nicht öffentlich zu ihren Taten bekannten. Anders als die RAF-Terroristen habe der NSU mit jedem Mord ein neues ein Rätsel aufgeben wollen. Erst am Ende, „zu einem selbst gewählten Zeitpunkt" oder beim Scheitern, sollte das Gesamtmordwerk als grandioser Schocker öffentlich präsentiert werden.
In dieser Logik versteht das Gericht auch den letzten NSU-Mord im Jahr 2007. Da überfielen Mundlos und Böhnhardt zwei Polizisten in Heilbronn. Die Beamtin Michéle Kiesewetter starb, ihr Streifenkollege überlebte mit knapper Not. Götzl meint, die Terroristen hätten einfach die Dosis erhöht und diesmal keine harmlosen Gewerbetreibenden angegriffen, sondern direkt den Staat. Warum die Täter für den Polizistenmord dann aber eine andere Waffe verwendeten und nicht, wie sonst durchweg, die Ceska, beantwortet Götzl nicht.
Nach jahrelanger Produktion und mehreren Vorfassungen habe der NSU dann irgendwann das „Dokument" fertig gehabt - in Form des zurecht immer als zynisch apostrophierten Paulchen-Panther-Videos. Die mobile Einheit (Mundlos und Böhnhardt) sei ebenso mit versandfertigen DVDs ausgestattet gewesen wie die „Zentrale" (Zschäpe). Vier Jahre nach dem letzten Mord scheiterten Mundlos und Böhnhardt bei einem Banküberfall. Zschäpe habe das im Radio gehört und prompt funktioniert - und als „Zentrale" das Werk vollendet und die Kuverts mit den DVDs in den Briefkasten geworfen. Wie ein „selbstgewählter Zeitpunkt" hätte aussehen können ließ das Gericht offen.
Zum Ende hin gewinnt Götzls Erzählung tatsächlich Plausibilität. Sie ist jedenfalls plausibler als Zschäpes eigene Einlassung, sie habe ihren Freuden nur einen letzten persönlichen Gefallen tun wollen. Götzl sieht darin ihren Teil der „Tatherrschaft" an jedem einzelnen Mord als erfüllt an, weil die Morde ohne das große „Dokument" sinnlos gewesen seien. Ob die Mitarbeit am großen „Dokument" als Tatbeitrag für jeden der zehn Morde genügt oder ob der Bundesgerichtshof das eher als Vereinigungsdelikt wertet dürfte trotzdem offen sein.
Bei aller Plausibilität an diesem Punkt: Bewiesen ist die Version des Gerichts nicht. Sie ist gut konstruiert und geschlussfolgert, mehr aber nicht. Und sie steht neben der weit weniger nachvollziehbare Konstruktion „antisemitischer" Motive für eher antimuslimische Morde.
Auf die Hinterbliebenen der Mordopfer, aber auch die Opfer der beiden Bombenanschläge, muss das deplaziert und wurschtig wirken. Einige Beobachter haben kritisiert, Richter Götzl habe die Opfer bei der Verkündung nicht direkt angesprochen. Das finde ich weniger kritikwürdig wie die Beliebigkeit seiner Motivbeschreibung. Rassistische oder fremdenfeindliche Motivation kommt kein einziges Mal vor, nur „Antisemitismus" und Hass auf den Staat. Demnach waren die türkischen Opfer oder der Grieche gar nicht gemeint? Haben die Täter sie mit Juden verwechselt? Natürlich nicht. Das „Ali-Gedicht", Texte in Fanzines oder aufgezeichnete Handy-Kommunikation - da ging es ja ausdrücklich um Hass auf Türken. Das war auch alles Teil der Beweisaufnahme im NSU-Prozess. In der Urteilsbegründung taucht nichts davon auf.
Stattdessen behauptete Götzl, Mundlos und Zschäpe hätten in Berlin eine Synagoge ausgespäht. Das ist allerdings nicht erwiesen. Erwiesen ist nur, dass sie sich in Berlin mit zwei weiteren Personen in einem Café trafen, das in unmittelbarer Nähe einer Synagoge liegt. Eine Synagoge mag als potentielles Asnchlagsziel einer rechtsextremen Terrorzelle plausibel aussehen, aber wenigstens ein Indiz für eine solche Ausspähung wäre gut gewesen. Es gab aber keines. Und Götzl benannte auch keines.
Sachlich falsch war schließlich eine Darstellung Götzls über das Haus in Zwickau, in dem Zschäpe und ihre beiden Freunde die letzten Jahre gelebt haben sollen. Nachdem Zschäpe die Fluchtwohnug mit einem Feuer zerstörte, habe das Haus „einsturzgefährdet abgerissen werden müssen". Richtig ist, dass das Haus abgerissen wurde, nicht aber, weil es einsturzgefährdet war. Im Rathaus der Stadt Zwickau behürchtete man, der letzte Wohnsitz des NSU könne zum Wallfahrtsort für Neonazis werden. Darum einigte sich die Stadt mit dem Eigentümer und ließ das Gebäude einreißen. Heute ist dort eine Wiese.
Mehr als fünf Jahre Prozess, eine außergewöhnlich detailreiche Beweisaufnahme, insgesamt beispielloser Ermittlungsaufwand - und dann doch so ein kleiner, aber sofort erkennbarer Schnitzer?
Wäre es nicht mehr als das, okay. Es ist aber mehr. Die größte aller Absonderlichkeiten ist vermutlich die, dass Rechtsextremismus ein historisch bedingtes deutsches Ausnahmethema ist, zugleich aber keine einzige Behörde die rechtsextrem motivierte NSU-Verbrechensserie auch nur geahnt haben will.
Einerseits ist das Thema dauerpräsent: „Nie wieder", „wehret den Anfängen", staatliche oder staatlich geförderte Programme gegen „rechts", Stiftungen, Bildungsinitiativen, Kampagnen, Medienprojekte, Aktionen, Kunstprojekte, Lichterketten, etc. Starke Symbolik auf allen Ebenen. Und dazu viel Geld für Prävention, Ursachenbekämpfung, Anti-Gewalt-Training, etc. Geht es um Symbolik, drängen sich alle ins Rampenlicht und fordern öffentlich Anerkennung für gute Taten ein.
Andererseits: Schwache Aufklärung, schwache Indizien, wenige Beweise, verschwundene Akten, auch nach gigantischem Ermittlungsaufwand immer noch dubios erscheinende Geheimdienstaktionen. Ausgerechnet bei einer seiner Kernaufgaben versagt der Staat, nämlich bei der Aufklärung von Verbrechen. Und niemand drängt nach vorn ins Rampenlicht, wo Pannen oder schlimmeres zu erklären wären.
Symbolik ist simpel. Substanz ist schwierig. Kindern, deren Väter ermordet wurden, in weihevollen Zeremonien Mitgefühl auszudrücken - okay. Ihnen gleichzeitig die Antwort darauf vorzuenthalten, warum der Vater starb - nicht okay. Beides in Kombination: Vermutlich grauenhaft.