Said Nesar Hashemi wurde 21 Jahre alt, das Tattoo auf seinem Arm nur wenige Stunden. Am Nachmittag des 19. Februar hatte er sich mit seinem Bruder Etris in Frankfurt auf der Zeil getroffen. Dort lässt sich Etris in römischen Ziffern das Geburtsdatum seiner Mutter stechen. Nesar entscheidet sich für das Motiv mit der Nummer 63454, der Postleitzahl des Hanauer Stadtteils Kesselstadt. Hier ist er geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen. Hier kannte er alles und jeden.
Am Abend sind Nesar und Etris mit Freunden in der Arena Bar verabredet. "Eigentlich ein Drecksschuppen", sagt Etris heute. "Aber da konnte man abhängen, es war warm und trocken." Gut genug für einen Februarabend und ein, zwei Kippen mit Freunden.
Als Nesar geboren wird, am 9. Juni 1998, hatte Männer sind Schweine gerade Céline Dions My Heart Will Go On an der Spitze der Charts abgelöst. Die Tagesschau verkündet sinkende Arbeitslosenzahlen als Topmeldung. Einen Tag nach Nesars Geburt beginnt die Fußball-WM in Frankreich, im Eröffnungsspiel gewinnt Brasilien gegen Schottland 2:1.
Der Täter schießt mindestens 47-malAm Abend des 19. Februar 2020 läuft wieder Fußball, Champions League. Auch deshalb sind die beiden Brüder in der Bar. Tottenham verliert gegen RB Leipzig 1:0, das Tor fällt in der 58. Minute. Da ist Nesar schon tot, er stirbt um 22.10 Uhr, kurz nach Anpfiff der zweiten Halbzeit. Zwei Kugeln in den Rücken, sie gehen in Leber, Magen, Herz.
An diesem Abend werden in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven von einem Terroristen ermordet. Sie hießen Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Said Nesar Hashemi.
Mindestens 47-mal schießt der Täter, drei der Kugeln treffen auch Etris Hashemi. Eine streift ihn, eine durchschlägt sein Schultergelenk, eine dritte trifft ihn am Hals, geht rechts rein und bleibt links im Kiefer stecken. Etris kauert hinterm Tresen, versucht den Notruf zu wählen, die 110 erreicht er zweimal nicht, erst bei der 112 geht jemand dran. Während er telefoniert, bemerkt er, dass er nuschelt. Sein Freund Momo sitzt neben ihm auf dem Boden, auch er wurde angeschossen. Momo sagt ihm: "Etris, du blutest am Hals!" Erst da weiß er, dass er getroffen wurde.
Momo drückt ihm einen alten Pulli auf die Wunde, der unter dem Tresen lag, irgendwann kommt ein Freund in die Bar, ruft: "Wir müssen hier raus, falls er wiederkommt!" Etris zögert. "Ich dachte, ich würde sterben." Er rafft sich noch mal auf, will sehen, ob er anderen helfen kann. Vor dem Tresen sieht er seinen Freund Hamza tot auf dem Boden liegen, daneben Nesar.
Etris war der große Bruder, Nesar der SpaßmacherAll das erzählt Etris ganz ruhig, an dieser Stelle bricht seine Stimme für einen Moment kaum merklich. Der Mann ist groß, kräftig, behält seine Gefühle lieber für sich. Hat erst lange gar nicht öffentlich gesprochen; jetzt, in den Tagen vor dem ersten Jahrestag, spricht er viel. Er sitzt in einem Büro etwas außerhalb von , hier hat die Stadt nach dem Anschlag ein Zentrum für Demokratie und Vielfalt eingerichtet. Etris hat einen eigenen Schlüssel.
Er und Nesar waren zwei von fünf Geschwistern. Saida, die älteste Schwester, ist heute Lehrerin, Etris ist ein Jahr jünger, Nesar noch mal zwei. Die zwei kleinen Geschwister sind noch ein ganzes Stück kleiner. So sind es vor allem die beiden Brüder, die als Kinder aufeinanderhängen. Draußen, in Kesselstadt, in der Wohnung sowieso. Vier Zimmer für sieben Familienmitglieder, Etris und Nesar teilen sich eines.
Da kann, da muss man sich von Zeit zu Zeit mal auf den Sack gehen. So sagt es Etris, weil man es gar nicht anders sagen kann. Es ist die naturgegebene Aufgabe von Brüdern, den anderen manchmal in den Wahnsinn zu treiben. Nesar hat das perfektioniert, in einer guten Art und Weise. Etris war der große Bruder, Nesar der Spaßmacher. Konnte die kleinen Geschwister stundenlang nerven, wenn die in Ruhe auf der Play Station zocken wollten, mit ihnen rumalbern, oft spielten sie Wrestling. "Er hat immer alle zum Lachen gebracht", sagt Etris.