Zehn mal zehn mal elf Zentimeter ist der Kubus, den Begaiym Isaakova, 21, vorsichtig aus dem Schrank holt. Es ist ein Cubesat, ein kleiner Übungssatellit, an dem hier im abgedunkelten Raum mit der poppig-bunten Orienttapete, den alten Holztischen und den herumliegenden Elektroden gebastelt wird. Später werden einmal rundherum Solarpanels angebracht sein. Jetzt sieht man noch gut die kleinen runden und eckigen Plättchen und Elektroden und Kabel im Inneren. Alles, was ihn später im All am Leben halten wird.
Isaakova gehört zum nur aus Frauen bestehenden Kirgisischen Raumfahrtprogramm, dem Kyrgyz Space Program, dessen derzeit acht Mitglieder im Alter von 21 bis 27 Jahren sich regelmäßig hier in ihrem Hauptquartier in der Hauptstadt Bischkek treffen, um das Bauen eines Satelliten zu lernen. „Who run the space? Kyrgyz girls", steht auf einer herzförmigen Karte an der Wand. Es ist eine Anspielung auf Beyoncés Song „Run the World (Girls)" und eine gute Beschreibung dessen, was hier passiert: 2024 wollen die jungen Frauen ihren Satelliten ins All schießen, einen kleinen Cubesat, vergleichbar mit ihrem Übungsmodell - es wäre der erste Satellit des Landes überhaupt: Seit 1991 ist Kirgistan unabhängig und hat kein eigenes offizielles Raumfahrtprogramm. Als Teil der Sowjetunion arbeitete das Land an einigen Projekten mit. Aber seither waren andere Probleme wie Armut, Ressourcenmangel und eine mangelhafte Infrastruktur drängender.
Dass nun gerade eine Truppe junger Frauen nach den Sternen greift, ist in Kirgistan, wo zudem eine gravierende Geschlechterungerechtigkeit herrscht, besonders beachtlich. Nach Angaben von UNICEF wurden im 6,6 Millionen Einwohner starken Kirgistan 2018 rund 13,4 Prozent der kirgisischen Frauen unter 24 in irgendeiner Form zu einer Ehe gezwungen. Darunter fällt auch „ala kachuu", der sogenannte „Brautraub": eine oftmals als kulturelle Tradition verklärte Entführung, bei der viele der Mädchen und Frauen auch Vergewaltigungen und häusliche Gewalt erleben. Selbst wenn das per Gesetz mittlerweile verboten ist und primär in ländlichen Gegenden praktiziert wird, halten sich auch in den Städten traditionelle Geschlechterstereotype: „Als Frau wird von dir erwartet, dass du heiratest, Kinder bekommst und deinem Mann gehorchst", sagt Kyzzhibek Batyrkanova, 27, die das Raumfahrtprojekt leitet und sich besonders wegen des Erstarkens radikal-religiöser Tendenzen und deren Folgen für die Frauenrechte im Land sorgt, dessen Bürger den Islam eigentlich eher moderat leben und interpretieren. Für die jungen Frauen geht es also nicht nur darum, den ersten kirgisischen Satelliten in den Weltraum zu schießen, sie wollen auch zeigen, dass kirgisische Frauen das können - dass sie überhaupt alles erreichen können, was sie wollen.
Auf die Idee zum reinen Frauenprogramm kam Bektour Iskender, Ko-Gründer von Kloop Media, einem alternativen Medienunternehmen, das im Land über Politik, Korruption und Menschenrechtsverletzungen berichtet und seit 2007 als Medienschule schon Teenagern das Handwerk für investigative Recherchen vermittelt. Während einer Konferenz in Vancouver traf Iskender auf Alex MacDonald von der NASA, der ihm von einem neuen, kostengünstigen Satelliten erzählte.
Kloop Media hatte damals bereits einen Robotikkurs als Peer-to-Peer-Lernen angeboten: 50 Leute nahmen teil, darunter nur zwei Frauen. Iskender fragte sich, wie man kirgisische Mädchen mehr für MINT-Themen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) begeistern könnte, die nicht nur in Kirgistan bis heute eher als „Jungsthemen" gelten. So entstand die Idee, ein Satellitenprogramm ausschließlich für Mädchen und junge Frauen zu initiieren.
Kloop Media startete 2018 einen Aufruf in den sozialen Medien, viele meldeten sich begeistert, darunter auch schon Batyrkanova und Isaakova; über die Jahre hat sich die Kerntruppe immer mal wieder verändert. Keine der Frauen hatte Erfahrung in Sachen Satellitenbau oder auch nur einen Hauch von spezifischem Wissen. Viele von ihnen waren damals noch nicht volljährig oder hatten gerade erst die Schule abgeschlossen; einige hatten gerade angefangen zu studieren. Wenige hatten zuvor an eine Karriere rund ums All auch nur gedacht.
„Na klar habe ich schon immer gern Weltraumfilme gesehen und Stephen Hawking gelesen. Aber einmal bei einem Weltraumprogramm dabei zu sein, hätte ich mir nie erträumt. Man träumt ja immer nur das, was man sich auch vorstellen kann“, sagt Anita Zhudenova, 22, die Mathematik studiert. Wo es keine entsprechende Infrastruktur oder Astronautinnen als Vorbilder gibt, kommen viele Mädchen gar nicht auf die Idee, dass so eine Zukunft möglich sein könnte.
Der Aufruf in den sozialen Netzwerken habe ihr „die Augen geöffnet“, sagt Isaakova. Alle betonen, dass Kloop Media zwar die Initialzündung lieferte, ansonsten aber von Anfang an alles in den Händen der Frauen lag. Das war natürlich so eine Sache. Batyrkanova lacht: „Damals schauten wir uns alle ratlos an. Keiner hatte eine Ahnung. Also googelten wir erst mal ‚Wie baut man einen Satelliten?‘ und ‚Wie sendet man einen Satelliten ins All?‘.“ Zhudenova fügt hinzu: „Viele der technischen Details konnten wir uns tatsächlich erst mal anlesen. Die NASA gibt viel Material kostenlos heraus.“ Zusätzlich profitierten sie von Mentoren. Die Frauen erhalten Unterstützung von ausländischen Botschaften und Organisationen, die sie etwa mit Raumfahrtexperten zusammenbringen. Insbesondere die US-amerikanische Botschaft hat sie wiederholt mit NASA-Persönlichkeiten wie der Raketenwissenschaftlerin Camille Wardrop Alleyne verknüpft, welche den Frauen Grundlagenwissen über das All und die Raumfahrt vermittelt hat.
Mit Unterstützung von Mentoren und dem Internet konnten die Frauen seit der Initiierung des Projekts bereits lernen, wie man programmiert, Elektroden verschweißt oder Sensoren am Satelliten anbringt, um später Magnetfelder, Temperatur oder Bewegungen messen zu können. Isaakova: „Das Beste am Space-Programm ist das Lernen und die Challenge – und natürlich, gemeinsam mit den anderen Zeit zu verbringen.“ Über die Frage, was der Satellit denn überhaupt können muss, haben die Frauen anfangs viel gegrübelt. Dass er Bilder aufnimmt, Kirgistan von oben, hätten alle cool gefunden. Aber die Kosten dafür wären zu hoch gewesen. Jetzt wird er in den geschätzten zwei bis drei Monaten seiner Lebensdauer um die Erde kreisen und ganz einfache Daten sammeln. Man dürfe nicht vergessen, dass es der erste Satellit sei, den sie bauen, so Zhudenova: „Unser Ziel ist es, dass die Mission gelingt. Wenn wir das Signal von unserem Satelliten erkennen, wissen wir, dass wir es geschafft haben.“ Und: „Sputnik 1, der allererste Satellit im All, hat ja auch nicht viel mehr gekonnt, als zu piepen.“
Wenn der Satellit einmal fertig ist, soll er auf einem Flug zur Internationalen Raumstation ISS mitgenommen und von dort von Astronauten direkt ins All geschickt werden. „Das ist sicherer, als ihn mit einer Rakete hochzuschicken“, sagt Zhudenova. Welcher der Astronauten ihren Cubesat letztlich ins All schießt? „Wenn wir es uns aussuchen könnten, wäre es für mich Christina Koch. Sie hat fast ein Jahr auf der ISS verbracht und ist damit die Frau mit dem bislang längsten Weltraumaufenthalt. Sie ist außerdem im Programm Artemis, das erstmals seit der Apollo 17 wieder Astronauten auf dem Mond landen will – erstmals auch eine Frau“, sagt die Kirgisin mit aufgeregt leuchtenden Augen.
Um den Satelliten fertigzustellen, muss allerdings noch die Sache mit dem Geld geregelt werden. Anfangs waren die Frauen davon ausgegangen, das gesamte Projekt für rund 300.000 US-Dollar umsetzen zu können, inklusive der Kosten für die Satelliten. Während der Übungssatellit rund 10.000 Dollar kostet, liegt der Cubesat, der später ins All geht, bei rund 50.000 Dollar. Auch die Personalkosten waren bereits eingerechnet. Zuerst arbeiteten einige der Frauen Vollzeit am Projekt, mittlerweile haben einige auch andere Jobs. Derzeit arbeiten alle nur Teilzeit am Satelliten – und die Kosten sind höher als erwartet. Rund 240.000 Dollar konnten sie bislang über Spenden und Crowdfunding zusammenbekommen. Das reicht nicht. In den USA und Europa, wo es viele Förderprogramme für Schüler und Studenten rund um das Weltall gebe, sei das laut Batyrkanova ganz anders strukturiert. Den ersten kirgisischen Satelliten als zeitintensives Hobby oder unbezahltes „Praktikum“ anzusehen, wie das vielleicht in Deutschland passieren würde, kann sich hier niemand leisten. Und um tatsächlich einen ersten Satelliten fertigzustellen und in den Weltraum zu schießen, bräuchte es jetzt noch einmal rund 200.000 Dollar.
Eine angesichts des Vorhabens vergleichsweise überschaubare Summe, vor allem gemessen an dem, was sonst für die Raumfahrt ausgegeben wird. Der Europäischen Weltraumorganisation ESA stand für 2020 ein Budget von rund 6,7 Milliarden Euro zur Verfügung. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger zahlten dabei laut ESA pro Kopf im Durchschnitt jährlich Steuergelder „in Höhe eines Kinobesuchs“, wie es auf der Website heißt. In den Vereinigten Staaten seien die Investitionen in die zivile Raumfahrt fast viermal so hoch.
Dass sie zwar sehr motiviert sind, aber anders als in Europa oder den USA nicht die gleichen Chancen haben, deprimiert die Frauen. Sie hoffen auf weitere Spenden. Vom eigenen Staat erwarten sie vorerst nichts – schon allein wegen ihrer Nähe zum regierungskritischen Unternehmen Kloop Media, in dessen Räumlichkeiten sich auch ihr Büro befindet. „Wir haben sogar schon Elon Musk geschrieben, leider antwortete er nicht“, sagt Isaakova. „Vielleicht probieren wir es noch mal.“ „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, sang in den 1970ern Liedermacher Reinhard Mey. Wer in Kirgistan eine halbe Stunde raus aus der Hauptstadt Bischkek fährt, in Richtung des gigantischen Bergsees Yssikkol, und dort abends in den hell erleuchteten Sternhimmel blickt, versteht und glaubt diese Zeilen sofort. Gerade in einem repressiveren Umfeld dient das All als Sehnsuchtsort und Projektionsfläche einer besseren Welt, wo weder Nationalitäten noch Grenzen eine Rolle spielen.
„Den Zugang haben leider doch nur ein paar lucky few“, sagt Aidana Aidarbekova. „Und es hat die großen Behörden über ein halbes Jahrhundert gekostet, mal diversere Weltraumprogramme zu initiieren.“ Dass das All in erster Linie ein hochpolitischer Ort ist, sieht man schon daran, dass Russland aus dem ISS-Programm aussteigen möchte – das verstehen viele auch als Abgesang auf die gemeinsame Vorstellung einer glücklichen Weltgemeinschaft.
Auch weil das Projekt sowohl aus finanziellen als auch aus pandemischen Gründen jetzt schon länger dauert als geplant – ursprünglich sollte der Satellit schon 2021 ins All geschossen werden –, haben die Frauen das Programm ordentlich überarbeitet. Es geht ihnen mittlerweile nicht mehr nur um den Satelliten, sondern darum, eine Infrastruktur für die Raumfahrtindustrie in Kirgistan aufzubauen und langfristig noch mehr Frauen für ihre Arbeit zu begeistern. Das Wissen, das sie sich in den letzten Jahren angeeignet haben, wollen sie weitergeben. Sie entwickeln derzeit Lern- und Trainingsprogramme für Mädchen und Frauen; aus der ersten Initiative soll eine Schule erwachsen, in der das Satellitenbauen gelernt wird. Dass es mittlerweile mehr weibliche STEM-Programme (für Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik) in Kirgistan gebe, helfe dabei eher. Aidarbekova betont aber stolz: „Im Weltraum sind wir nach wie vor die ersten.“
Der kirgisische Satellit mag für die internationale Raumfahrt nur ein kleiner Schritt sein – aber sicher ist: Er ist ein großer Schritt für die Frauen von Kirgistan.
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