Nach dem Überfall der Hamas auf Israel verbreiteten Mitglieder der islamistischen Terrororganisation Videos, die Vergewaltigungen zeigen sollen. Dass diese Zurschaustellung sexueller Gewalt eine besonders wirksame Demütigung des Gegners ist, erklärt die Autorin und Kriegsberichterstatterin Christina Lamb.
ZEITmagazin ONLINE: Frau Lamb, von Ihnen stammt das Zitat, Vergewaltigung sei ebenso eine Kriegswaffe wie die Machete, die Keule oder die Kalaschnikow. Wie ist das gemeint?
Christina Lamb: Leider ist Vergewaltigung eine äußerst wirksame und billige Kriegswaffe. Wenn Frauen und Mädchen vergewaltigt werden, demütigt und terrorisiert das den Feind. Es ist außerdem destabilisierend für eine Gesellschaft, wenn sie ihre Frauen und Kinder nicht schützen kann.
ZEITmagazin ONLINE: Im Krieg im Nahen Osten wirft Israel der Hamas vor, Mädchen und Frauen vergewaltigt zu haben. Es gibt unter anderem Foto- und Videoaufnahmen, die sexualisierte Gewalt an jungen Frauen durch die Hamas zeigen sollen.
Lamb: Es ist sehr wahrscheinlich, dass Vergewaltigungen stattgefunden haben, gerade wenn man bedenkt, wie oft das weltweit geschieht. In meiner Recherche habe ich keinen einzigen aktuellen Konflikt gefunden, in dem es zu keinen Vergewaltigungen kam. Tatsächlich erleben wir meiner Meinung nach derzeit eine Epidemie von Kriegsvergewaltigungen.
ZEITmagazin ONLINE: Sie meinen, Vergewaltigungen passieren in jedem Kriegs- und Krisengebiet?
Lamb: Genau. In meinem Buch beschreibe ich zwölf verschiedene Konflikte auf fünf Kontinenten. Kriegsvergewaltigungen passieren überall, nicht bloß weit weg. Aktuell etwa in Haftzentren in Belarus und im Iran sowie in der Ukraine. Sie sind weder spezifisch für eine Religion noch für eine Kultur. Ich finde das entmutigend. Ja, es gab schon immer Vergewaltigungen im Krieg, da kann man zurückgehen bis in die griechische oder römische Antike. Aber wir haben 2023, die Gesellschaft sollte weiter fortgeschritten sein.
ZEITmagazin ONLINE: Wie wird sexualisierte Gewalt in Konfliktsituationen begründet?
Lamb: Ein Beispiel ist Religion: Wenn der Gegner als "Ungläubiger" betrachtet wird, wird dies als Rechtfertigung für eine Vergewaltigung missbraucht oder sogar als korrigierende Maßnahme dargestellt. Denken Sie an IS-Kämpfer, die Jesidinnen entführten, die sie als 'Teufelsanbeter' betrachteten. Sexualisierte Gewalt in Konfliktzonen kann auch ethnische Motive haben, zum Beispiel den Versuch, die nächste Generation zu dezimieren. Ich denke da an Ruanda, Bosnien und die Rohingya in Myanmar. Auch wirtschaftliche Überlegungen können eine Rolle spielen.
ZEITmagazin ONLINE: Meinen Sie Fälle wie von Kämpfern des sogenannten "Islamischen Staates" entführte Frauen, die als Sexsklavinnen verkauft wurden?
Lamb: Unter anderem. Strukturelle Vergewaltigungen sind aber auch effektiv darin, Menschen aus Gebieten zu vertreiben. Das sieht man aktuell im Kongo, wo Milizen in wirtschaftlich lukrativen, an Mineralien reichen Gegenden gezielt Menschen vergewaltigen, vor der Bedrohung fliehen viele.
ZEITmagazin ONLINE: Selbst unabhängig von Krisensituationen wird sexualisierte Gewalt nur selten bestraft. In Deutschland führt nur etwa ein Bruchteil aller angezeigten Vergewaltigungen tatsächlich zu einer Verurteilung. Auch die Dunkelziffer ist hoch. Im Falle von Vergewaltigungen in Krisengebieten (PDF) geht die UN davon aus, dass auf jede angezeigte bis zu 20 weitere kommen.
Lamb: Die tatsächlichen Zahlen könnten noch höher sein. Selbst in der Ukraine haben nur etwa 140 bis 150 Frauen zu ihrer Vergewaltigung bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt, aber weit mehr haben Hotlines für Betroffene angerufen. Wahrscheinlich sind es eher Tausende. Die niedrige Zahl der Anzeigen liegt zum Teil auch an der Stigmatisierung, die mit Vergewaltigungen einhergeht. Aber auch daran, dass viele Frauen glauben, dass sowieso nichts unternommen wird. Und in vielen Konflikten sind es gerade die staatlichen Institutionen oder herrschenden Gruppen, die sexualisierte Gewalt anwenden. Da wollen sich viele Frauen nicht bei den Behörden melden.
ZEITmagazin ONLINE: Was sind außerdem Gründe?
Lamb: Dass Vergewaltigungen so schwer zu ahnden sind, liegt auch an ihrem
intimen Charakter. Es ist im Nachhinein oft schlicht schwer nachzuweisen. Etwa,
weil Zeugen fehlen oder kein Zugang zu medizinischer Untersuchung besteht. Vergewaltiger
kommen davon, so funktioniert eigentlich jedes System. Als ich angefangen habe,
mich mehr mit dem Thema zu beschäftigen, war ich überrascht zu sehen, wie jung
die Geschichte der juristischen Verfolgung ist. Erst 1998 wurde Vergewaltigung
erstmals strafrechtlich als Kriegsverbrechen verfolgt. Es waren Frauen aus Ruanda, die den Mut hatten, unter
Lebensgefahr ihre Fälle zu schildern. In den 21 Jahren des Bestehens des Internationalen
Strafgerichtshofs gab es nur eine erfolgreiche Verurteilung wegen
Vergewaltigung als Kriegsverbrechen.
ZEITmagazin ONLINE: Wie können Vergewaltigungen nachgewiesen werden, wenn betroffene Frauen nicht mehr aussagen können, wie im Fall von Hamas, wo die mutmaßlichen Opfer getötet wurden?
Lamb: Manchmal gibt es Zeugen, deren Geschichten überprüft werden können. Dann gibt es forensische Beweise oder zerrissene Kleidung, und manchmal prahlen die Täter mit dem, was sie getan haben.
ZEITmagazin ONLINE: Ein häufiges Problem bei Vergewaltigungsvorwürfen ist, dass einige Menschen dazu neigen, dem Opfer nicht zu glauben. Ist das bei Kriegsvergewaltigungen anders?
Lamb: Eines der Probleme bei Vergewaltigung ist, dass dem Opfer oft die Schuld an dem gegeben wird, sodass es möglicherweise aufgrund von Scham gar nicht erst von dem Verbrechen berichtet. Das trifft mehr noch auf traditionelle Gesellschaften zu. In der aktuellen Situation in Israel sehe ich das allerdings nicht – die Menschen würden den Opfern größtes Mitgefühl entgegenbringen.
Lamb: In einigen Konflikten sicherlich. Nehmen Sie die von
IS-Kämpfern entführten Jesidinnen, das war eine Anordnung. "Wir werden euer Rom
erobern, eure Kreuze zerbrechen und eure Frauen versklaven", sagte Abu Mohammad
al-Adnani, Sprecher des sogenannten "Islamischen Staates", 2014 in einer Botschaft
an den Westen. Eine ähnliche öffentliche Drohung gab es seitens Boko Haram, als
sie Mädchen als sogenannte Buschfrauen versklavten. In anderen Konflikten passieren
Gräueltaten weniger direkt.
ZEITmagazin ONLINE: Inwiefern?
Lamb: Sie werden heute vermutlich keine Armee eines entwickelten Landes finden, in dem Kriegsvergewaltigungen offiziell angeordnet werden. Beispielsweise bezweifle ich sehr, dass wir jemals eine Art "Befehl" finden werden, was die Vergewaltigung ukrainischer Frauen durch russische Soldaten angeht.
ZEITmagazin ONLINE: Einige Armeen gehen dabei offenbar brutaler oder organisierter vor als andere. Was können Gründe dafür sein?
Lamb: Ich glaube nicht, dass es einen Wettbewerb des Schmerzes geben sollte, bei dem eine Vergewaltigung schlimmer ist als eine andere. Es ist immer furchtbar. In manchen Konflikten gab es allerdings besonders brutale Gruppenvergewaltigungen. Im Kongo traf ich eine Frau, die zwölf Operationen benötigte, um ihren Unterleib wiederherzustellen, und sie war immer noch inkontinent. In anderen Fällen wurden Frauen als Sklaven gehandelt. Im Nahostkonflikt scheint es bislang im Vergleich zu anderen Konflikten zumindest in kleinerem Maßstab zu passieren. Was Sinn machen könnte, wenn man sich die relativ hohe Anzahl von Frauen in der israelischen Armee anschaut. Ich denke, in überwiegend oder rein männlichen Armeen herrscht eine Art "Macker-Kultur", in denen die Menschen denken, sie müssten gewisse Dinge tun. Und dann sagt niemand etwas dagegen.
ZEITmagazin ONLINE: Wie könnte man die juristische Verfolgung von Kriegsvergewaltigungen verbessern?
Lamb: Deutschland wird tatsächlich als rechtliches Vorbild betrachtet, da hier das Weltrechtsprinzip angewendet wird, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu verfolgen, die weder im Land selbst begangen wurden noch von oder gegen Staatsbürger. Nehmen Sie den Fall des fünfjährigen versklavten jesidischen Mädchens im Irak, das in Falludscha in der prallen Sonne angekettet verdurstete und starb. Der Täter wurde 2021 wegen Völkermordes an den Jesiden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. In Großbritannien wäre das derzeit nicht möglich. Ein generelles Problem ist, dass nicht genügend Frauen an Friedens- oder Gerichtsprozessen beteiligt sind.
ZEITmagazin ONLINE: Was machen Richterinnen im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen anders?
Lamb: An den wenigen Fällen, wo Kriegsvergewaltigungen vor Gericht erfolgreich verhandelt wurden, waren immer Richterinnen oder Staatsanwältinnen beteiligt. Ich denke, Männer nehmen das Problem weniger ernst, einige betrachten Vergewaltigungen eher als eine Nebensache zum Töten und Foltern. Ein Richter im Irak lachte tatsächlich, als ich fragte, warum er in einem Fall nicht auch wegen Vergewaltigung ermittelte.
ZEITmagazin ONLINE: Als Kriegsreporterin waren Sie oft eine von wenigen Frauen, die aus Krisengebieten berichteten.
Lamb: Als ich Ende der Achtzigerjahre anfing, wurde das Feld von Männern dominiert, niemand schrieb über diese Themen. Ich habe mich immer darauf konzentriert, was Frauen im Krieg passiert, aber noch bis vor fünf oder sechs Jahren sagten die männlichen Redakteure, das interessiert niemanden, wenn ich in meinen Berichten Fälle von Vergewaltigungen schilderte. Aber wenn nicht darüber berichtet wird, werden solche Fälle kaum gesehen und gehört. Mittlerweile hat sich glücklicherweise viel an der Haltung verändert, Vergewaltigungen werden stärker thematisiert. Meiner Meinung nach markiert der Krieg in der Ukraine einen Wendepunkt, wenn auch einen ziemlich düsteren. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat von Anfang an viel darüber gesprochen, was Frauen und Mädchen passiert, und es wurde umfassend über das Thema berichtet.
ZEITmagazin ONLINE: Aus aktuelleren Krisengebieten existieren mehr Bilder und Videos als früher. Im Falle der Anschläge am 7. Oktober entwendeten offenbar Angreifer der Hamas Handys der Geiseln und streamten deren Entführung live auf Facebook. Wie verändert sich durch die technologischen Möglichkeiten die Beweisführung?
Lamb:
Natürlich gilt: je mehr
Material, desto besser, aber wir stehen auch vor der Herausforderung,
echtes von falschem zu unterscheiden. Gerade in den sozialen Medien
kursieren viele
Falschinformationen. Was sich in den letzten Jahren verändert hat, ist
allerdings, dass Frauen Social Media als Plattformen nutzen, um selbst
mit
ihren Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen.
ZEITmagazin ONLINE: Sie haben sich auch mit Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg beschäftigt und bemerken, dass neben den Soldaten der damaligen Sowjetunion auch die anderen Alliierten* deutsche Frauen missbrauchten. Worüber in Deutschland in dem Kontext meinem Eindruck nach viel weniger geredet wird, sind die Fälle vergewaltigter Jüdinnen in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Es scheint eine Täter- als auch eine Opferhierarchie zu geben.
Lamb: Jedes Leben hat den gleichen Wert. Wir sollten die gleiche Scham empfinden, egal welcher Frau auf der Welt so etwas passiert. Aber offensichtlich fühlen Menschen eine stärkere Verbindung aktuell beispielsweise zu ukrainischen Frauen, einfach weil es näher an ihnen dran ist. Generell gibt es immer noch viel Schweigen an vielen Orten auf der Welt. Für mich ist es interessant, an solche Orte zu gehen und darüber zu sprechen. Ich habe es schon oft erlebt, dass nach Vorträgen, etwa in Polen oder Litauen, Menschen zu mir kamen und sagten, genau das sei ihrer Tante oder Mutter im Zweiten Weltkrieg passiert, niemand hat in der Familie darüber gesprochen, es war eine Art Geheimnis.
ZEITmagazin ONLINE: Sie haben für Ihr Buch viele schwer traumatisierte Frauen interviewt. Hatten Sie dabei ethische Bedenken?
Lamb: Natürlich. Es grassiert in England diese vielleicht apokryphe Geschichte eines Boulevardreporters im Kongo, der eine Gruppe belgischer Nonnen fragt: "Wurde hier jemand vergewaltigt und spricht Englisch?". So etwas ist das Letzte, was wir tun sollten. Aber Tatsache ist, dass Reporter in Kriegsgebieten oft die Ersten sind, die mit traumatisierten Menschen sprechen; wir sind dafür nicht wirklich ausgebildet, wir sind keine Therapeuten und könnten Menschen leicht erneut traumatisieren. Für mein Buch bin ich in der Regel zu Beratungsstellen oder Kanzleien gegangen, die mit Überlebenden arbeiten, und habe sie gebeten, ihre Klienten zu fragen, ob sie daran interessiert wären, darüber zu sprechen.
ZEITmagazin ONLINE: Wie viele der Frauen, mit denen Sie über ihre Geschichten sprachen, haben ihre Fälle eigentlich offiziell angezeigt?
Lamb: Da ich über offizielle Wege gegangen bin, hatten Frauen das in der Regel. Im Allgemeinen ist das aber nur ein sehr kleiner Prozentsatz.
ZEITmagazin ONLINE: Was erhoffen sich die Frauen davon, mit Ihnen zu sprechen?
Lamb: Fast alle sagen, sie wollen Gerechtigkeit. Das kann für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge bedeuten. Für viele ist das eben nicht, monatelang in einem Gerichtssaal dem Täter gegenüberzusitzen. Viele möchten zunächst einmal, dass ihre Geschichte gesehen, gehört und anerkannt wird. Viele haben die Hoffnung, dass ihre Geschichte dazu beiträgt, dass anderen Frauen nicht das Gleiche passiert wie ihnen.
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