Langsam hebt die Kuh ihren Kopf, stellt die Ohren auf und schaut die Neuankömmlinge auf der Weide kauend und mit großen Augen an. Feine Löckchen kräuseln sich auf der Stirn im glänzenden ahornfarbenen Fell des Angusrindes. „Das ist so eine Kuh, wo man als Züchter denkt: schönes Tier", sagt Wilhelm Schäkel. Der promovierte Landwirt und Philosoph hält neben Schafen, Pferden und Eseln auf seiner Bio-, Urlaubs- und Erlebnis-Ranch in Zempow im Norden Brandenburgs rund 100 Rinder. Mit ihnen führt er regelmäßig interessierte Besucher in die Kunst des Kuhflüsterns ein.
Alpaka- und Eselwanderungen, Pferde- und Schafsbegegnungen, jetzt das Kuhflüstern: Neu sind diese Angebote nicht, aber sie locken verstärkt sinnsuchende Großstädter an. Auf Instagram wird für „Experiences" wie das Kuhflüstern geworben, Influencer posen schon länger mit Alpakas auf der Weide. Die Begegnung mit der Herde: plötzlich cool. Warum? Und was genau kann man dabei eigentlich lernen?
Das Kuhflüstern wurde für den Umgang mit Tieren entwickelt. Als Landwirt stand Schäkel vor der Frage: Wie bewege ich meine Herde von Weide A nach Weide B? Gängige Antwort: mit Druck und Gewalt. Aber aggressives Treiben oder Hiebe mit dem Stock lösen bei der Kuh „richtig Stress aus", sagt Schäkel. Er suchte nach einer Alternative. Das ist nicht nur eine ethische Frage: Eine gestresste Kuh gibt weniger Milch. Und kann aggressiv werden. Jährlich gibt es laut Schäkel in Deutschland rund 6000 - 8000 Unfälle mit Kühen. Bei rund 700 Kilo Körpermasse endet das schon mal tödlich. Schäkel stieß auf die „Low Stress Stockmanship"-Methode aus den USA, bei der Landwirte lernen, mit Achtsamkeit und dem Einsatz von Körpersprache die Kuh zu lenken. Gewaltfreie Kommunikation also.
Der Kuhflüsterer bietet Seminare und Workshops nicht nur für Menschen, die mit Rinderherden arbeiten, sondern auch für alle, die auf Schlagworte wie Stress und Mindfulness, Nähe und Distanz, Einfühlung und Soft Skills reagieren. „Neu-Berliner, sag ich mal", beschreibt Schäkel die Zielgruppe und taxiert seine Besucher aus der Hauptstadt mit durchdringendem Blick.
Schäkel glaubt, dass man mit den Tieren auch etwas über sich selbst lernt - in 3-Stunden-Programmen oder ganzen Seminarwochen. Auch Manager können einiges über Mitarbeiterführung mitnehmen: Kuhherden hätten zwar hierarchische Strukturen, allerdings würden Entscheidungen als Kollektiv und zugunsten aller getroffen. Die Kühe schaffen also schon längst, woran der Mensch oft noch scheitert.
Schäkel hat auf eine Papiertafel das Wort „Kuhflüstern" geschrieben. Bevor es auf die Weide geht, gibt es eine theoretische Einführung und Sicherheitshinweise: „So ein Rind willst du nicht gegen dich aufbringen." Für ihn sind es ganz besondere Tiere: Die Kuh habe ihren ganz eigenen Charakter, pflege Freundschaften. Und sie lebt selbst in sozialen Strukturen von bis zu 70 Tieren. Danach organisierten sich die Kühe in Untergruppen. Den Seminarteilnehmern möchte er die „Sprache" der Kühe beibringen. Keine Muh-Laute, sondern Bewegungen. Da beim Menschen auch rund 90 Prozent der Kommunikation ohne Worte stattfindet, kann das mit der Einfühlung durchaus gelingen. Am Umgang mit der Herde könne man sein Verhalten gespiegelt bekommen.
Das Ziel des Tages wird sein, die Herde von einer Weide auf eine andere zu versetzen, nur mit den Mitteln des eigenen Körpers. Dazu sei es wichtig, relativ schnell innerhalb der Herde in eine Entscheider-Position zu gelangen; zu führen mit Vertrauen, ganz ohne Angst.
Schäkel zieht drei Kreise um eine etwas unförmige Figur auf der Tafel, „eine Kuh von oben“. Am weitesten weg, bei einer halbwilden Herde etwa 120 Meter, liege die sogenannte „Respektzone“. In der beginnt die Kommunikation. Er sagt: „Respekt heißt sehen und gesehen werden.“ Den Tieren nähert man sich in der mittleren Zone bis auf etwa fünf Meter in Zickzacklinien, erstens, weil nur Raubtiere frontal drauflospreschen, und zweitens, weil jedes Zick und Zack eine Entscheidung darstellt. Wer entscheidet, ist Chefin.
Nah an einer Kuh geht es um das direkte Lenken. Einen Schritt auf sie zu: Die Kuh weicht zurück. Einen Schritt zurück: Man gibt ihr Raum. „Wir üben nur so viel Impuls aus, wie die Kuh in Bewegung umsetzen kann“, sagt Schäkel. Alles andere wäre Druck, eine Grenzüberschreitung, die Kuh fühle sich dann eingeengt. Das klingt vertraut. In Streichelnähe geht es heute nicht, dazu reicht die Zeit nicht aus: „Sie lassen ja auch nicht jeden Menschen gleich an sich ran.“
Schäkel hat seinen Hut aufgesetzt. Auf dem Weg zum Feld appelliert er an die Sinne aller Beteiligten: „Ab jetzt langsam den Kopf ausschalten, sehen und lauschen. Was höre ich? Was fühle ich? Die Tiere spüren unsere Ängste und Unsicherheiten, das macht sie nervös. Ihnen sollte man sich nur positiv-neutral nähern.“ Die innere Einfühlung zum Aufwärmen – für Schäkel eine Achtsamkeitsübung, die jeder täglich machen sollte.
Der Kuhflüsterer drückt den Zaun herunter und sagt: „Manche Menschen trauen sich gar nicht weiter. Für viele kommt die Einsicht, dass sie da Ängste haben, ziemlich überraschend.“ Wer eher extrovertiert und von Neugierde getrieben sei, übernehme innerhalb der Herde die Späher-Funktion. Die würden von den Kühen zuerst wahrgenommen, hätten aber häufig Probleme mit echter Nähe. Wer vielleicht eher beobachtet und introvertiert sei, käme dafür oft dichter an die Tiere ran. Aber: „Da ist jeder Mensch anders.“ Jedenfalls lieben die Tiere laut Schäkel Kameras, sie erinnerten sie an große Augen.
„Da, jetzt haben wir zwei Ohren“, sagt Schäkel. Die Kühe haben Hallo gesagt. Ab jetzt dürfe man sich keinesfalls klein machen. Nur Raubtiere pirschen sich an. Mit zügigen Zickzackschritten über den Matschboden geht es näher an die Tiere heran. Außen vorbei, nicht mittendurch, schließlich wolle keiner die Herde spalten. Schäkel tritt jetzt einen Schritt auf die Kuh zu, woraufhin die sich tatsächlich in Bewegung setzt! Der Kuhflüsterer tritt einen Schritt zurück und sagt: „Sehr dominante Personen schaffen es oft nicht, an dieser Stelle loszulassen und den Kühen Raum zu geben, die wollen mit aller Kraft ihre Macht ausüben.“ Sukzessive lässt sich die Herde so auf die andere Weide bewegen.
Schäkel benutzt machmal Worte wie „Chakra“ und „Genius“, „Seelenanteile“ oder „authentisches Selbst“. Das klingt esoterisch. Aber seine Kernaussage ist klar: dass man Mensch wie Tier mit Respekt und Einfühlungsvermögen begegnen sollte und dass es nie ums Dressieren, sondern maximal ums Lenken geht.
Nach einer Stunde mit der Herde sinkt das „Excitement“-Level. Und so wird die Übung in Achtsamkeit auch zu einer in Geduld und Entschleunigung. Um wirklich nahe an die Tiere ranzukommen, müsste man jetzt eben mehr als drei Stunden Zeit mitbringen, sich voll auf die Kühe einlassen. Das Impuls-Seminar ist dennoch eine gute Übung in Selbstreflexion. Und eine „Experience“, die man als eine dieser kurzweiligen Anekdoten wunderbar den Kollegen oder bei einer dieser flüchtigen Dating-Begegnungen erzählen kann. Übrigens lässt sich mit so einer Kuh auch ganz hervorragend der Instagram-Feed füttern.
Rétablir l'original