4. Dezember 2021 · Michelle Zauner ist auf der Höhe ihres Könnens. Die koreanisch-amerikanische Sängerin und Autorin drückt sich auch gern modisch aus. Die Tour ihrer Band durch die Vereinigten Staaten unterbricht sie für unser Fern-Shooting: vorbereitet in Berlin, aufgenommen in Brooklyn.
Eine wacklige Verbindung über Zoom. Es ist früher Morgen in den USA. Michelle Zauner sitzt ungeschminkt und mit nassen Haaren vor ihrem Laptop in einem Hotelzimmer und plaudert drauflos. Einen Moment lang friert das Videobild ein, hält die Künstlerin so fest, wie man sie im Gespräch noch häufiger sehen wird: mit angewinkeltem Kopf, geschlossenen Augen und einem breiten Grinsen. Eine Pose, irgendwo zwischen Nachdenklichkeit, Entspannung und freundschaftlicher Vertrautheit. Mit Michelle Zauner zu reden fühlt sich schnell so an, als spräche man mit einer Freundin, die man lange nicht gesehen hat, an deren Leben mit allen Schicksalsschlägen und Erfolgen man aber immer noch Anteil nimmt. Andererseits glaubt man ja ohnehin, sie gut zu kennen, zumindest wenn man ihre Erinnerungen „Crying in H Mart" gelesen hat, die in diesem Jahr veröffentlicht wurden und gerade auf Deutsch unter dem Titel „Tränen im Asia-Markt" (Ullstein) erschienen sind.
Michelle Zauner ist mit einer koreanischen Mutter und einem amerikanischen Vater in der Stadt Eugene im Bundesstaat Oregon aufgewachsen. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Brooklyn. Sie ist Frontfrau und Kopf der Indie-Rockband Japanese Breakfast, die in diesem Sommer ihr drittes Studioalbum veröffentlicht hat („Jubilee") und im kommenden Jahr auf Europa-Tournee geht.
In „Tränen im Asia-Markt" erzählt sie aus ihrem Leben, ausgehend vom Tod ihrer Mutter, die 2014 an Krebs starb; wenige Jahre zuvor war schon ihre Tante an der Krankheit gestorben. Es ist eine Geschichte von Trauer und Tod, aber auch von Liebe, Heilung und Hoffnung. Und von koreanischem Essen, für Zauner eine Form von Selbsttherapie. Ihr Buch bekam viele positive Kritiken, in der Sachbuch-Bestsellerliste der New York Times stieß es auf Platz zwei vor. Schon 2018 hatte sie das titelgebende erste Kapitel als Essay im Magazin New Yorker publiziert.
„Wir sind gerade", kurzes Überlegen, „in Utah", sagt Michelle Zauner im Gespräch und lacht mit der hellen, kräftigen Stimme, die auch in ihren Liedern zu hören ist. Sie tourt derzeit mit ihrer Band durch das Land, jeden Tag eine andere Stadt, fast täglich ein anderer Bundesstaat. „Da komme ich manchmal durcheinander, wo wir gerade sind." Im Hintergrund wuselt ihr Mann Peter Bradley, ebenfalls Mitglied von Japanese Breakfast, durchs Bild, er bringt Kaffee von Starbucks und einen Orangensaft. Es sei schwierig, sagt Zauner, in kleineren amerikanischen Städten etwas anderes zu essen zu bekommen als modern American pub food. Nur gut, dass man im Tourbus das eigene, mitgebrachte Kimchi essen kann. Keine Frage: Bei Michelle Zauner dreht sich vieles ums Essen.
Zu Beginn von „Tränen im Asia-Markt" wird sie im H-Mart (einer auf asiatische Lebensmittel spezialisierten amerikanischen Supermarktkette, in Deutschland bekannt als Asia-Märkte) von Erinnerungen an ihre Mutter und Trauer über ihren Tod überrumpelt. Schließlich findet sie mit Hilfe einer Youtube-Köchin ihre Verbindung zur koreanischen Küche wieder und damit auch zu sich selbst. „Wenn ich zum H-Mart fahre", schreibt sie, „dann bin ich nicht bloß auf der Jagd nach Tintenfisch und drei Bund Frühlingszwiebeln für einen Dollar; ich suche nach Erinnerungen. Ich sammle Beweise dafür, dass der koreanische Anteil meiner Identität nicht mit ihnen gestorben ist."
Michelle Zauner ist ein heiterer Mensch, das Gespräch mit ihr ist so angenehm und kurzweilig, dass es zuweilen absurd erscheint, sich vorzustellen, dass sie ihr halbes Erwachsenenleben damit verbracht hat, Trauer zu spüren und künstlerisch zu verarbeiten; dass ihre Bekanntheit maßgeblich auf der Auseinandersetzung mit Verlusterfahrungen basiert. Auch die ersten zwei Studioalben von Japanese Breakfast, „Psychopomp" (2016) und „Soft Sounds From Another Planet" (2017), sind eine Antwort auf den Tod ihrer Mutter. Mit diesen Alben gelang ihr der kommerzielle Durchbruch; zuvor hatte sie mit der Band Big Little League schon erste musikalische Erfahrungen gesammelt.
Das Sprechen über den Tod sei nicht immer leicht gewesen, sagt sie, auch wenn man eine gewisse Distanz zur eigenen Trauer aufbaue. Das Schreiben, die Liedtexte und das Buch hätten ihr aber bei der Verarbeitung geholfen. Das habe auch mit Kontrolle zu tun: „Über das Schreiben habe ich mir den Teil meiner eigenen Geschichte zurückgeholt, über den ich die Kontrolle verloren hatte. Rückblickend konnte ich so wieder etwas Macht über die Zeit gewinnen." Das Schreiben von Liedtexten und Buchkapiteln sei eine grundverschiedene Erfahrung. „Mit dem Songwriting geht ein intuitives, entspanntes, organisches Gefühl einher. Ein Buch zu schreiben fühlt sich für mich unnatürlich und qualvoll an."
Liedtexte seien zudem offener für Interpretationen, es gehe eher darum, ein Gefühl zu destillieren. Dafür müsse man genauer erkunden, was in einem gerade vor sich gehe. „Beides kommt vom gleichen rohen und persönlichen Ort. Aber in der Musik gibt es eine ganze Welt der Klangkomponenten." Die Lieder von Japanese Breakfast seien insofern „funny", weil sich die ersten zwei Alben um schwere Themen drehten, mit ihren freundlichen Gitarrenakkorden aber eine heitere Stimmung erzeugten.
Obwohl sie gerade am Drehbuch von „Tränen im Asia-Markt" arbeitet, das demnächst verfilmt wird, hat sie inzwischen künstlerisch die Trauer hinter sich gelassen. Im vergangenen Jahr schrieb sie den Soundtrack zu einem Videospiel, der Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Superheldin. Auch für einen Roman mangelt es nicht an Ideen. Sie ist erleichtert, dass es nicht nur ihre persönlichsten Geschichten sind, die Kreativität in ihr wecken, sondern auch fiktionale Geschehnisse.
Mit dem im Sommer veröffentlichten Album „Jubilee" fühlt sie sich insofern auch in neue Welten vor. Der Sound ist voller, der Einsatz der Instrumente üppiger. Es ist ein neuer Abschnitt in ihrer künstlerischen Karriere. Das Lied „Savage Good Boy" ist ein gutes Beispiel dafür. Zauner hat es aus der Perspektive eines Milliardärs geschrieben, der sich einen Bunker kauft, dort hinter meterdicken Wänden achtsam seinen Reichtum hortet - und eine junge Frau als seine Freundin in diesen dunklen goldenen Käfig lockt. Inspiriert dazu habe sie eine Überschrift in der Zeitung zu einem tatsächlichen Bunkermilliardär. „Für mich ist das symptomatisch für unsere Zeit", sagt sie.
Im Videoclip dazu schlüpft sie in die Rolle der Freundin, die aus dem so pompösen wie morbiden Ort irgendwann ausbricht, indem sie den Milliardär durch einen Vampirkuss tötet. Zauner, die den Clip selbst erdacht und realisiert hat, trägt darin skulpturale, voluminöse Kleider, gigantische Hüte und aufwendig lackierte Kunstnägel. Auch sonst setzt sie Mode gerne als Stilmittel ein. Auf ihrer aktuellen Tournee trägt sie fast ausschließlich Entwürfe aus dem Archiv von Simone Rocha, die für ihre filigranen, ausladenden Kleider bekannt ist. Auch die Designerin Sandy Liang, die Prinzessinnenkleider im Grunge- und Großstadtstil dekonstruiert, hat es ihr angetan. „Ich glaube, Bühnenoutfits helfen mir, in die richtige Gedankenwelt zu kommen. Sie sind fast wie eine Rüstung, auch ein Ritual."
Als Musikerin findet Michelle Zauner gerade ebenfalls viel Beachtung. Das Magazin T der New York Times widmete ihr und anderen asiatisch-amerikanischen Künstlerinnen vor kurzem eine Titelgeschichte. In der Berichterstattung über sie geht es oft darum, dass sie für viele Frauen mit asiatischen Wurzeln ein Vorbild ist, dass sie für die Hoffnung auf eine diversere Zukunft steht, als eine der Künstlerinnen, die in der männlich dominierten weißen Indie-Musik bislang stark unterrepräsentiert sind. Zauner selbst sieht das zwiespältig. Sie möchte wegen ihrer Musik geschätzt werden, nicht wegen ihrer Herkunft.
Sie weist aber auch darauf hin, wie wichtig die koreanisch-amerikanische Sängerin Karen O von den Yeah Yeah Yeahs in ihrer Jugend für ihr eigenes Selbstverständnis als Musikerin war. In „Tränen im Asia-Markt" schreibt sie: „Die Frontfrau Karen O war meine erste Musik-Ikone, die aussah wie ich. Sie war halb Koreanerin, halb Weiße, und wie sie auf der Bühne auftrat, war unvergleichlich und löschte das Stereotyp der sanftmütigen Asiatin völlig aus. (...) Mein erster Gedanke war: Wie kriege ich das auch hin? Und der zweite: Wenn es schon eine Asiatin gibt, die das macht, dann gibt es für mich keinen Platz mehr."
Erst später sei ihr klar geworden, dass sie mit solchen Gedanken nicht allein war, dass es Erfahrungen sind, die viele People of Color mit ihr teilen. Zugleich kenne sie das Gefühl, aufzuwachsen und sich weder richtig koreanisch noch richtig amerikanisch zu fühlen. „Ein Teil des Buches drehte sich auch darum, diese Erfahrung und meinen Blick darauf zu verstehen." In „Tränen im Asia-Markt" gibt es einen Dialog zwischen ihr und ihrer Mutter: „'Du weißt nicht, wie es ist, das einzige koreanische Mädchen auf der ganzen Schule zu sein', ließ ich mich bei meiner Mutter aus, die mich nur verständnislos ansah. ‚Aber du bist doch keine Koreanerin', sagte sie. ‚Du bist Amerikanerin.'"
Als Michelle Zauner vor einigen Jahren in der Kochdoku „Munchies" auf der Videoplattform Vice ein paar Folgen zum Thema Migrationsküche mitmoderierte, erntete sie Kommentare, sie sei nicht koreanisch genug, um über koreanisches Essen zu sprechen. Für Zauner, der Essen auch als Zugang zur eigenen Identität wichtig ist, war das schmerzhaft, zumal in einer Zeit, in der koreanische Kultur mit K-Pop, K-Beauty und K-Food gefeiert wurde. Dass koreanische Kultur heute so verbreitet ist, findet sie dennoch aufregend. „Als Kind hätte ich das wirklich gerne gehabt", sagt sie. „Einen gewissen Stolz auf die Dinge, die man hat." Die koreanische Seite ihrer Identität hatte sie in ihrer Jugend in der amerikanischen Provinz oft als Makel empfunden. In der Schule wurde sie wegen ihrer „stinkenden koreanischen Lunchboxen" gehänselt. Heute sei das anders: „Es ist cool geworden, koreanisch zu sein. Deshalb bin ich sehr froh, dass die jüngeren Generationen andere Erfahrungen machen."
Michelle Zauner erzählt von einem weißen amerikanischen Teenager, den sie kürzlich auf der Videoplattform TikTok entdeckt habe und der dort Anleitungen zur Herstellung von Kimchi und eingelegten Gurken poste. „Ich denke mir: Schön für dich, Junge", sagt sie. „Ich bin wirklich froh, wenn ich sehe, dass das, was mir Spaß macht, andere Menschen glücklich macht." Beim Essen ergibt sich, wie bei Musik, Mode und Literatur, immer die Möglichkeit, Menschen für andere Welten zu begeistern. Michelle Zauner kann davon ein Lied singen.
Eine Produktion aus der FerneWie gelingt eine Modeproduktion, wenn der Star in New York wohnt und die Kreativdirektion in Berlin, aber ein weitgehendes Einreiseverbot in die Vereinigten Staaten gilt? Das geht nur digital. Eine besondere Herausforderung war die Long-Distance-Produktion für Stylistin Leonie Volk, schließlich lassen sich das Haptische der Mode wie auch die Arbeit am Körper nur schwer ins Digitale übertragen. Leonie Volk bestellte die Kleider, die für das Shooting ausgewählt wurden, wie immer bei Modehäusern und in Vintage-Archiven und schickte sie zu einer Assistentin nach New York. Per Videokonferenz und mit einem Fitting-Model wurden alle Looks für Michelle Zauner vorab kombiniert. Zum Shooting mit dem New Yorker Fotografen Cameron Postforoosh im Studio und im koreanischen Restaurant „Insa" (einer von Michelle Zauners Lieblingsadressen in Brooklyn) waren Leonie Volk und Autorin Celina Plag dann per Video zugeschaltet. Bis spät in die Nacht gaben sie aus der Ferne Instruktionen. Das Ergebnis? Sehen Sie selbst! (F.A.Z.)
Fotos: Cameron Postforoosh
Styling: Leonie Volk
Text: Celina Plag
Kreativdirektion: Celina Plag und Leonie Volk
Haare: Takuya Yamaguchi (The Wall Group), mit Produkten von R+Co
Make-up: Asami Matsuda (Artlist Paris + New York), mit Produkten von Shiseido
Maniküre: Nori Yamanaka (See Management)
Leitende Produktion: Jes Palumbo-Levy
Produktionskoordination: Israel Veintidos
Fotoassistenz: Bogdan Teslar Kwiatkowski
Stylingassistenz: María Montané Postproduktion: Augustín Prieto
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