Oxford - "Oh Gott, ich komme zu spät", stöhnte das weiße Kaninchen, warf einen Blick auf seine Taschenuhr, hoppelte schneller und verschwand unter der Hecke in einem Erdloch. Alice sprang hinterher - und den Rest der Geschichte ihrer Reise ins Wunderland kennt fast jedes Kind.
Irgendwo hier in Oxford, in einem gepflegten College-Garten, liegt also der Eingang in dieses Fabelreich. Ein Kaninchenbau ist nicht zu entdecken. Aber die Kulisse von Christ Church, dessen gotische Außenmauern sich nach einem kurzen Schauer verschwommen vom feucht-dampfigen Gegenlicht der Nachmittagssonne abheben, verleiht dem Ort auch ohne Erdloch eine magische Atmosphäre.
Vor ungefähr 150 Jahren lebten sie hier in Oxford: Alice Liddell, die Tochter des damaligen Dekans des größten und reichsten Colleges in Oxford, und der junge Mathematikdozent Charles Dodgson, der unter dem Pseudonym Lewis Carroll grotesk-fantastische Kinderbücher veröffentlichte. Dodgson, ein begeisterter Kunstfotograf der ersten Stunde, hatte im Privatgarten des Dekans häufig Aufnahmen von den Liddell-Sprösslingen gemacht. Die Tatsache, dass er einige Mädchen nackt in Engelspose fotografierte, brachte ihm später den - allerdings nie bestätigten - Vorwurf der Pädophilie ein.
Unbeeindruckt von dem schlechten Leumund gibt es überall auf der Welt Lewis-Carroll-Fans, die das ganze Jahr über in die englische Stadt pilgern, um die Originalschauplätze der Alice-Geschichten zu sehen. Erster Anlaufpunkt ist dabei Christ Church, das wegen seiner Great Hall, dem Tom Tower aus dem 17. Jahrhundert und der Kathedrale aus dem Mittelalter zu Oxfords bedeutendsten Attraktionen zählt.
Vor einem Besuch sollte sich der Tourist aber sicherheitshalber nach den Öffnungszeiten erkundigen. Denn alle Colleges in Oxford werden von Zerberus-ähnlichen Portiers bewacht. Sie legen großen Wert darauf, dass die Gebäude, die zum großen Teil aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit stammen, Arbeitsstätten sind - und keine Museen. Für die Öffentlichkeit werden die Colleges nur zu bestimmten Zeiten geöffnet, und auch dann gibt es keine Garantie auf Einlass.
Ginge es nach einigen Portiers, könnte man auf die Touristen ganz verzichten, und so passiert es nicht selten, dass "vergessen" wird, das Schild mit der Aufschrift "Für Besucher geschlossen" zu den offiziellen Besuchszeiten aus dem Weg zu räumen. Auch wer nach dem Motto "Frechheit siegt" freundlich grüßend den Angehörigen der Universität hinterher stapft, muss damit rechnen, nach wenigen Metern gestoppt zu werden, denn viele der pflichtbewussten Türsteher kennen tatsächlich alle Dozenten und Studenten ihres Colleges persönlich.