Reichsbürger, Rechts- und Linksextremisten, aber auch Islamisten versuchen offenbar, die Corona-Krise für ihre Ziele zu nutzen. „Extremisten haben das Thema für sich entdeckt und alle versuchen, es zu besetzen", warnt der Leiter des Landesamts für Verfassungsschutz Bremen, Dierk Schittkowski. Es gebe einen richtigen Wettbewerb, in dem es darum gehe, die Krise für die jeweilige Propaganda einzuspannen. „Natürlich sind wir da hellwach", betont Schittkowski.
In ganz Deutschland hatten am Wochenende Tausende Menschen gegen die Corona-Maßnahmen protestiert. Dabei trugen sie oft keinen Mundschutz und hielten die Sicherheitsabstände nicht ein. In Bremen sprach die Polizei von 100 Teilnehmern. Neben unauffälligen Bürgern, Friedensaktivisten und Esoterikern hätten auch Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger auf dem Marktplatz protestiert, sagt der Bremer Verfassungsschutz-Chef. Reichsbürger lehnen die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ab, 130 Personen zählt die Behörde zu der Szene in Bremen. Zudem riefen rechtsextreme Parteien wie NPD und Die Rechte zu Protesten gegen eine angebliche Corona-Diktatur auf.
Sind bei Rechtsextremen Ausländer oder Eliten schuld, ist es bei Linksextremisten der „Repressionsstaat" oder der Kapitalismus, sagt Schittkowski. Für Islamisten seien die USA der Feind, auch in der Coronakrise. Alle Extremisten zielten auf die in der Coronakrise insgesamt verunsicherte Bevölkerung. Die Anti-Corona-Demonstrationen seien auch deshalb so bunt gemischt. Experten bezeichnen diese Vereinigung von Linken und Rechten auch als „Querfront". Der Verfassungsschutz-Chef hält es allerdings für zu früh, um zu sagen, ob die Proteste zu einer Radikalisierung der Gesellschaft führen. Ein Faktor, der eine Polarisierung begünstigen könne, sei eine mögliche schlechtere wirtschaftliche Lage nach der Pandemie.
„Einzelne Motivationen für die Proteste sind rational erklärbar", sagte André Aden vom Mobilen Beratungsteam (MBT) gegen Rechtsextremismus im Land Bremen. Unter den Demonstrierenden seien zum Teil Menschen, die ein Problem damit hätten, dass Grundrechte eingeschränkt werden oder die Maßnahmen aufgrund von Informationsmängeln nicht nachvollziehen könnten. „Wenn in solche Ängste noch ein bestimmtes Weltbild rein spielt, kann es zu einer explosiven Mischung werden", warnte Aden. Es sei weniger die harte Neonazi-Szene als ein sehr diffuses Feld an Gruppen und Akteuren, das jetzt protestiere. Er hält es für wichtig, weiter zu beobachten, wer bei den Protesten teilnimmt, auftritt und was dort gesagt wird.
Das Problem bei den derzeitigen Verschwörungsmythen aus Sicht des Beraters: „Dass da - vereinfacht gesagt - mindestens eine gewisse Form von Antisemitismus mitschwingt." Sie beinhalteten die zwanghafte Vorstellung von dunklen Machenschaften herbeifantasierter Eliten gegen die eigene Bevölkerung. Corona erscheine für viele, die ohnehin anfällig seien für solche Vorstellungen, wie eine Bestätigung. „Sie denken: Jetzt wird es offenbar, jetzt sieht man die große Diktatur." Aden, dessen Team Bremer Schulen, Unternehmen und Einzelpersonen im Umgang mit Rechtsextremismus unterstützt, hält es für wichtig, über die Gefahren solcher Mythen aufzuklären und politische Entscheidungen transparent zu machen.
Die Bundesregierung betont das Recht auf friedliches Demonstrieren und verurteilt zugleich das Verbreiten von Verschwörungstheorien. „Friedliche Demonstrationen sind auch in dieser Zeit wichtig, um auch divergierende Meinungen öffentlich darstellen zu können", versichert Sprecher Steffen Seibert. Etwas ganz Anderes seien hingegen abstruse Behauptungen, hasserfüllte Stereotype oder Theorien, die einen Sündenbock oder „Weltbösewicht" suchten. „Wer so etwas verbreitet, der will unser Land spalten und die Menschen gegeneinander aufbringen", macht Seibert klar. Sorge bereite ihm die hohe Aggressivität bei den Demos gegenüber Polizisten und Journalisten.
Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, hält es für möglich, dass es zu einer ähnlichen Entwicklung kommt wie beim Thema Flüchtlinge. Zwar sei die Unzufriedenheit noch nicht so groß wie 2015. Damit die Proteste kein Besorgnis erregendes Ausmaß annähmen, sei Aufklärung wichtig - über das Virus und über Möglichkeiten zu wirtschaftlicher Unterstützung. Das rechte Spektrum versuche zunehmend, die Proteste aus dem bürgerlichen Lager zu kapern.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Joachim Schuster, warnt: „Wer an einer Demo gegen die Grundrechts-Einschränkungen teilnimmt, muss sich bewusst machen, an wessen Seite er demonstriert und welche Aussagen dort verbreitet werden." Gegen Corona-Maßnahmen mit Symbolen zu demonstrieren, die an den Holocaust erinnern, verhöhne die Opfer der Shoah.