Der Jeside Lavinj* ist aus dem Sindschar-Gebirge vor der Terrormiliz Daesch geflohen. Der WESER-KURIER hat ihn von den ersten Fluchtplänen bis zu seiner Ankunft in Deutschland begleitet . Über Telefonate, Nachrichten und Chats hielt Carolin Henkenberens mit ihm Kontakt. Seit drei Monaten ist er inzwischen in Deutschland. Was hat er erlebt in dieser Zeit? Das Protokoll einer Ankunft.
13. Januar, 13.30 Uhr
„Gasthaus Eifeltor" steht auf der Leuchtreklame. Lavinj geht um das weiß verputzte Haus herum, das bis vor wenigen Monaten noch ein Traditionslokal im Städtchen Rheinbach, ein paar Kilometer südlich von Bonn, war. Jetzt beheimatet es Gäste wie Lavinj. Gäste, die fliehen mussten - vor Daesch, vor Diktatoren, vor Armut. Lavinj öffnet den Lieferanteneingang und durchquert den Gastraum. Dahinter, zur Straße hin, liegt sein Schlafzimmer. „So, hier ist es", sagt er, bleibt stehen und blickt sich um. Sechs Feldbetten, eine Kleiderstange, ein paar Lebensmittel auf der Fensterbank. Von den drei Monaten, die er jetzt in Deutschland ist, hat er zwei hier verbracht. Angefangen hatte es im Oktober in der Nähe von Dortmund:
20. Oktober 2015
Vier Tage nach seiner Ankunft in Deutschland hat Lavinj sich entschieden: „Ich habe mich nun in einer Stadt namens Wickede-Wimbern registriert. Es ist OK", schreibt er in einer SMS. Er brauchte ein paar Tage, um sich klar zu werden, wie es weitergehen soll. Soll er wirklich in Deutschland bleiben? Oder weiter nach Schweden? Was wird aus seiner Familie? Doch heute lässt er sich registrieren. Mit einem Bus geht es ins Dörfchen Wimbern. Dort ist er in einem ehemaligen Krankenhaus untergebracht. „Ich habe heute mit meiner Mutter telefoniert. Ich kann nicht aufhören zu weinen", sagt er. Seine Familie ist noch immer in einem Flüchtlingscamp im Irak. Lediglich einer seiner Brüder ist auch in den USA.
21. Oktober, 23 Uhr
„Hallo, wie geht's?", schreibt Lavinj. „Mir ist langweilig." Schlafen will er nicht so recht. Denn er liegt in einem Zimmer mit vier Muslimen. Das macht ihm Angst. Vor genau diesen Menschen sei er doch geflüchtet, sagt er. Und jetzt soll er neben ihnen einschlafen?
Der Facebook-Messenger blinkt: „Hello, I need some help. I am in a small village and there is nothing to buy." Wir telefonieren. Lavinj erzählt von seinem ersten Ausflug in die Umgebung. Das Krankenhaus, in dem er wohnt, liegt in einem 800-Seelen-Ort. Ins Städtchen Wickede sind es drei Kilometer, immer die große Bundesstraße entlang. Lavinj wollte dort einkaufen, er hätte gerne ein neues Handy. Und einen Anspitzer für seine Stifte. Im ganzen Ort gebe es keine Anspitzer. Was braucht er sonst? Kleidung und einen Koffer. Gibt es keine Kleiderkammer? Doch, die gebe es, sagt er. Aber er will keine Spenden. Ihm ist es unangenehm, Hilfe anzunehmen. Er habe ja noch etwas Geld, davon könnte er Jeans kaufen. Na gut, sagt Lavinj nach einer Weile, er wolle doch einmal bei der Kleiderkammer vorbei sehen. Aber wenn er irgendwann wieder arbeitet, will er das Geld zurückgeben.
"Überfahrt überlebt. Rückruf später." - Teil 1 der Flucht lesen25. Oktober
Lavinj hat ein Foto von seinen Papieren geschickt. Er bittet darum, es zu übersetzen. „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender", steht darauf. Bis zum 20. Januar 2016 darf er nicht arbeiten und kein Studium aufnehmen. Zudem muss er sich im Bezirk seiner Aufnahmeeinrichtung aufhalten. Der Text schließt ab mit: „Der Asylsuchende hat sich unverzüglich zu der für ihn zuständigen Aufenthaltseinrichtung zu begeben." Er versteht nicht, was er tun muss, wann er wo Asyl beantragen kann. „Du bist doch Deutsche, kannst du mir nicht helfen, Asyl zu bekommen?"
Lavinj hat einen Brief geschrieben. An wen er den schicken muss, weiß er nicht. Aber er hat gehört, dass er politisches Asyl gesondert beantragen muss, bei jemandem an hoher Stelle. Im Brief steht: „Ich sehe mich genötigt, politisches Asyl zu beantragen, weil ich bedroht war von Al-Kaida im Schingal, der islamischen Bruderschaft in Sulaimaniyya zwischen 2004-2008 und einmal schossen sie auf mich. Ich fühlte mich nie sicher in Kurdistan nach dem Genozid in meiner Stadt Schingal. Das veranlasste mich, meine Familie in dieser Hölle zurückzulassen und ins Friedensland zu kommen."
„Bist du noch wach?", schreibt Lavinj. Er kann nicht schlafen. Er denkt die ganze Zeit nach. An seine Familie, die noch in der Hölle sei. An den Tag im August 2014, als Daesch seine Heimatstadt einnahm, und an den Moment, als seine Schwester ihn bat: „Erschieß' mich, wenn ISIS kommt!"
28. Oktober
Heute hatte Lavinj seinen Gesundheitscheck. Schon am Morgen sollte er da sein, doch keiner konnte ihm sagen, wann er an der Reihe ist. Weil er sich nicht traute, den Warteraum zu verlassen, verpasste er das Mittagessen.
„Übermorgen werde ich nach Rheinbach umziehen", schreibt Lavinj. In eine permanente Unterkunft. Seinen Asylantrag hat er immer noch nicht stellen können.
„Bitte Eins Zwei Drei Vier", tippt er im Chat und macht nach jedem Wort einen Absatz. „Das habe ich heute gelernt", schreibt er auf Englisch und schiebt hinterher: „Es ist so schwierig zu lernen." Sein Deutschkurs hat zwar noch nicht angefangen, aber er will lernen. Er fragt, was „It is hard" auf Deutsch heißt. Als er es weiß, schreibt er: „Es ist very hart."„Wie muss ich das aussprechen?", will er wissen. Sprachnachrichten gehen hin und her. Er sagt: „Hallo, wie geht es dir?" und „Ich heise Lavinj und kame aus demm Iraahk." Danach lacht er laut, es klingt befreit.
13. November
Die Nachricht, dass Sindschar von kurdischen und jesidischen Kämpfern zurückerobert und Daesch vertrieben wurde, verbreitet sich. Lavinj verfolgt die Nachrichten aus der Heimat sehr genau. Es nimmt ihn mit. Ein Großteil der Stadt ist zerbombt.
7. Dezember
Lavinj schickt ein Foto von sich im Schaukelstuhl. Auf seinen Schultern und Beinen sitzen vier kleine Kinder. Es sind die Kinder eines Freundes, den er gerade besucht. Morgen fährt er zu einem weiteren Freund nach Hannover.
9. Dezember
„Vielleicht bleibe ich in Hannover", sagt Lavinj. Er weiß, dass das nicht erlaubt ist. Asylbewerber dürfen sich nicht aussuchen, in welchem Bundesland sie ihren Antrag stellen. Aber in Hannover gibt es eine große jesidische Gemeinschaft. In Rheinbach, wo er mit Muslimen in einem Zimmer wohnt, fühle er sich nicht wohl. Nachts packe er sein Handy und Portemonnaie unters Kopfkissen. Er traut seinen Zimmergenossen nicht. Die Jahre der Unterdrückung als Jeside haben ihn ängstlich gemacht. Immer wieder erzählt er von seinem Kindheitsfreund, der sich Daesch angeschlossen hat.
11. Dezember
Lavinj ist nach Rheinbach zurückgekehrt. Er will keinen Ärger mit den Behörden.
18. Dezember
„Dieses Amt", schimpft Lavinj. Er hat die ganze Woche den Sprachkurs verpasst, weil er zum Arzt gehen wollte und für die Genehmigung für die Behandlung tagelang auf dem Sozialamt wartete. Nur in Bremen und Hamburg bekommen Flüchtlinge eine Gesundheitskarte und können direkt zum Arzt. Weil der Allgemeinmediziner ihn nicht sofort an den Facharzt verwies, musste Lavinj noch mal zum Sozialamt - und wieder warten.
28. Dezember
„Wenn du mich Mitte Januar besuchst, trinken wir Kaffee mit Zitrone", sagt Lavinj lachend. So trinkt man den Kaffee im Irak. Er freut sich auf das Treffen.
1. Januar
„Frohes neues Jahr", wünscht Lavinj. Er hat Silvester mit syrischen Freunden verbracht. Es sind Männer, die ebenso wie er von Daesch verfolgt wurden. Er wünscht sich für das neue Jahr, keine Albträume mehr zu haben. Und bald seinen Asylantrag stellen zu können.
5. Januar, 21.40 Uhr
„Ich wünschte, ich wäre nie geboren", bricht es am Telefon aus ihm heraus. Seine Wohnsituation und die Erinnerungen an seine Heimat bedrücken ihn. Er, der als Jeside seit der Kindheit von radikalen Muslimen verfolgt wurde - zunächst von Al-Kaida, dann von Daesch -, lebt mit fünf Männern in einem Raum, von denen er sich bedroht fühlt. Es fällt ihm schwer, darauf zu vertrauen, dass ihm das deutsche Grundgesetz Meinungs- und Religionsfreiheit sichert. Lavinj sagt, er brauche einen Psychologen.
13. Januar, 12.15 Uhr
Lavinj sitzt im Deutschkurs. „Die Susigkeiten", sagt er langsam. „Ja genau, die Süüüßigkeiten", wiederholt die Deutschlehrerin. Lavinj lacht. Das „ü" und das „ß" sind schwierig für ihn. Vor ihm liegt der Prospekt eines Supermarkts. An diesem Tag, an dem wir uns treffen, sind die Lebensmittel dran. Jeder soll sagen, was er gern isst. „Ich esse gerne Fisch", sagt ein Mann, ein anderer trinkt gern Milch. Lavinj liebt die Herausforderung: „Ich esse gern Granatapfel", sagt er und lächelt stolz, als er das schwierige Wort ausspricht. Drei Mal in der Woche lernt Lavinj Deutsch. Wenn er einen schlechten Tag hat, also viel an seine Heimat und Familie denken muss, kommt er nicht. Dann kann er sich nicht aufs Lernen konzentrieren.
Oliven, Frischkäse, Thunfisch, Wurst und Rührei stehen auf dem Tisch, an dem Lavinj mit seinen neuen syrischen Freunden sitzt und Mittag isst. Er reißt sich ein Stück Pita-Brot ab und tunkt es in den Frischkäse. Dabei erzählt er von der Zeit im Irak, als er noch „in Form" war, wie er sagt. Als er sportlich war und in den Bergen kletterte. „Einmal bin ich stecken geblieben, und meine Freunde mussten mich retten", sagt er und lacht lauthals. Die anderen Männer stimmen ein. In diesen Momenten mit seinen Freunden ist er unbeschwert. Er zeigt Fotos von sich: im Handstand, kletternd am Berg, mit Händen in der Hüfte. Bei seinen christlichen Freunden fühlt sich Lavinj wohl. „Sie sind wie meine Familie." Wenn er nicht gerade bei ihnen ist, verbringt er die Nachmittage mit seiner Gitarre. Oder er läuft zu einem Bauernhof, 30 Minuten entfernt. „Dort sitze ich dann und schaue in die Natur", sagt er. „I love the landscape in Dütschland." Er mag die Hügel und Berge, die grünen Wiesen. Doch oft wird er nachdenklich. In wenigen Tagen ist er genau drei Monate hier. Dann darf er arbeiten - wenn kein Europäer den Job machen will. Lavinj will arbeiten. Dann hat er nicht mehr so viel Zeit für Grübeleien.
13. Januar, 16.30 Uhr
Lavinj steht wieder vor dem Gasthaus. Nennt er es sein Zuhause? „Ja", sagt er spontan. Sein Zuhause im Irak ist zerstört. Dann überlegt er noch mal und meint: „Ein richtiges Zuhause ist es noch nicht, eher ein Ort." Kann er sich vorstellen, für immer hier zu bleiben? „So lange ich hier sicher bin."
15. Januar
Das Handy klingelt. Es ist Lavinj, die Worte sprudeln aus ihm heraus: Er hat vom Arzt eine Überweisung an einen Psychologen bekommen. Er weiß, dass die Therapie nicht einfach wird. Aber er will es versuchen.
Dieser Text ist Teil 3 eines Fluchtprotokolls. In Teil 1 schildert die Autorin Lavinjs Weg vom Irak bis auf die griechische Insel Lesbos. In Teil 2 protokollierte sie den Weg von Lesbos über die Balkan-Staaten bis nach Deutschland.
◼ Der WESER-KURIER verwendet den Begriff „Islamischer Staat" nicht mehr, weil diese Terrorgruppe weder religiös motiviert noch ein Staat ist. Wir sprechen wie ihre Gegner von Daesch.
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