Einem populären Ratschlag gemäß ist das Stimmenhören ja eine ganz normale Sache. "Folge deiner inneren Stimme!" Auch Gotthold Ephraim Lessing, Rainer Maria Rilke und Andy Warhol wurden in ihrem Schaffen von inneren Stimmen geprägt. Trotzdem werden Menschen, die darüber sprechen, dass sie Stimmen hören, mit Argwohn betrachtet.
Dorothea von Haebler ist Professorin an der International Psychoanalytic University in Berlin und Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité. "Etwa zehn Prozent der Menschen hören mindestens einmal in ihrem Leben Stimmen. Von denen ist nur ein Bruchteil schizophren."
Meist ist das Auftauchen von Stimmen mit konkreten Erfahrungen verbunden. So hören Mütter ihr Baby schreien, obwohl es weit weg ist. Auch Trauernde werden oft eine Zeit lang von der Stimme des nahestehenden Verstorbenen begleitet.
Sind die Stimmen befehlend oder beschimpfend, ist ein normales Leben kaum noch möglich. Der Alltag ist scheinbar fremdgesteuert, der Kontakt zur Realität geht verloren.
So war es auch bei Schauspieler und Künstler Rolf Fahrenkrog-Petersen. Als die Stimmen sein Leben auf den Kopf stellten, war er Anfang 40 und auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er war in Hollywood über den roten Teppich gelaufen, als der Kurzfilm "Kleingeld", in dem er mitspielte, für einen Oscar nominiert worden war. "Und dann kamen die Stimmen."
Sie warfen ihm Schlimmes vor: "Der dealt mit Drogen!" "Der ist ein Kinderschänder!" Er verbarrikadierte sich in seiner Wohnung. Manchmal versuchte er zu fliehen. Doch sie kriegten ihn überall.
Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité, erklärt, warum sich Fahrenkrog-Petersens Stimmen so real anfühlten. "Das Stimmenhören unterscheidet sich auf biologischer Ebene erheblich von normalen Gedanken."
Anders als beim Denken ist beim Stimmenhören das Hörzentrum aktiv, der auditive Cortex, der anspringt, wenn wir gesprochene Worte hören. Auch die Basalganglien sind im Einsatz. Sie sind im Gehirn für automatische Abläufe zuständig. Dadurch werden die Stimmen nicht als eigene Gedanken, sondern als Automatismus erlebt.
Da Psychosepatienten oft stark erhöhte Dopaminwerte aufweisen, setzte man früher auf sogenannte Neuroleptika, Mittel, die die Wirkung des Dopamins blockieren. Dopamin signalisiert: Pass auf, hier ist etwas wichtig und anders. Die erhöhten Werte lassen für den Betroffenen jedoch alles wichtig erscheinen. So kann das Gefühl entstehen, verfolgt zu werden - auch von Stimmen. Da Dopamin auch für Bewegungsabläufe wichtig ist, fühlten sich die Behandelten oft unbeweglich und steif. Die modernen Neuroleptika wirken nicht so stark dopaminhemmend, dafür aber gewichtssteigernd.
Auch Rolf Fahrenkrog-Petersen hat keine guten Erfahrungen mit Neuroleptika gemacht. "Die Medikamente machten mich nur dumpf", erinnert er sich. Schließlich stieß er auf das Netzwerk Stimmenhören - einen Verein, der Selbsthilfegruppen organisiert. "Da waren plötzlich Menschen, die wussten, wie sich das anfühlt", sagt Fahrenkrog-Petersen. Niemand sagte ihm hier, dass er verrückt sei. Stattdessen bekam er eine Psychotherapeutin vermittelt.
"Analytische Therapien können bei Stimmenhörern sinnvoll sein", sagt Dorothea von Haebler. "Die Stimmen ermöglichen häufig den Zugang zu tieferliegenden Problemen."
Um seine Stimmen zu verstehen, musste Fahrenkrog-Petersen mithilfe einer Therapeutin weit zurück gehen. Da war der prügelnde Vater. Da waren Jahre des Absturzes. Er war Alkoholiker, lebte auf der Straße. Dann kam der plötzliche Erfolg als Schauspieler. "Die Stimmen waren zu dem Zeitpunkt ein Warnsignal, sie sagten mir: Da ist etwas, das du noch nicht verarbeitet hast", erinnert er sich.
Heute geht es ihm wieder gut. "Ich leite selbst Selbsthilfegruppen", ergänz er noch. Es ist ihm wichtig, darüber aufzuklären, dass Stimmenhörer nicht gefährlich oder verrückt sind. Er wünscht sich, dass sie nicht mehr mit Argwohn betrachtet werden. Damit kein Stimmenhörer an dem Gefühl verzweifelt, nirgends reinzupassen.
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