Bereits vor Beginn hängt eine gewisse Schwere unter den verrosteten Röhren der Theatergarage. Minuten vor dem Auftakt ist bloß noch das leise Surren eines Beamers zu hören. Dann gehen die Lichter aus, und drei großformatige Bilder leuchten auf, alle paar Sekunden erscheint dazu ein weißer Schriftzug, begleitet von einem Wummer-Beat: „Ich komme aus Srebrenica. Ich überlebte."
Das Gesicht zu diesen Sätzen gehört Ahmo, ein von Falten gezeichnetes Gesicht, das als Schwarzweißfotografie an die kahle Garagenwand geworfen wird. Ahmo ist inzwischen 80 Jahre alt, damals, mitten im Kriegsgeschehen war er knapp 60. Er ist Bosniake, Überlebender und Zeuge eines der größten Kriegsverbrechen, auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Sommer 1995 harrte auch er in der Enklave Srebrenica aus, als das serbische Militär über 8.000 bosnische Jungen und Männer in Bussen deportierte und umbrachte, Mädchen und Frauen systematisch vergewaltigte. Heute ist Ahmo Protagonist des dokumentarischen Projekts Srebrenica - „I counted my remaining life in seconds ...", das an eine bittere und gleichsam eiserne Erinnerungskultur anknüpft. Ende vergangenen Jahres hatte das Stück in der Garage des Hamburger Thalia-Theaters Premiere, rund um den Jahrestag fanden nun die letzten beiden Aufführungen in dieser Spielzeit statt, ab Herbst wird es dann wieder zu sehen sein.
Der Schauspieler verschwindetDer Regisseur Branko Šimić und der Fotograf Armin Smailovic haben Ahmo über einen Zeitraum von sechs Jahren begleitet, interviewt und fotografiert, um Srebrenica und seine Pein in Worten und Bildern irgendwie begreiflich zu machen. Neben der Opferseite skizzieren sie eindringlich auch die der Vereinten Nationen und die der Täter. Mittels Foto- und Videomaterial wird die Perspektive des niederländischen Blauhelmsoldaten Rob und diejenige des Soldaten Drazen aus der serbischen Armee beleuchtet.
Zwar spricht der niederländische Blauhelm von Hilflosigkeit und der serbische Soldat von Autoritätslosigkeit, doch geht es der Inszenierung in keinem Moment um die Machtkonstrukte des Kriegs oder die Details der politischen Auseinandersetzungen, nicht einmal um die Frage von Schuld. Der Prozess emotionaler Aufarbeitung steht im Vordergrund. Die beiden von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideten Schauspieler sitzen das gesamte Stück über mittig auf der hölzernen Bühne, sie verzichten auf viel Bewegung und bedienen sich nur der leisen Gewalt des Worts, wenn sie von den Qualen sprechen: „Ahmo sagt, niemand, der nicht dabei war, kann unseren Geschmack der Angst begreifen. Dazu muss man dabeigewesen sein."
Die Schauspielerin Vernesa Berbo übersetzt die Aussagen der beiden Soldaten in den kurzen Videosegmenten, Jens Harzer beschreibt Ahmos Erlebnisse, mal in der dritten, mal in der ersten Person. Es ist eine Meisterleistung, wie durch die bloße Erzählkunst die Person Jens Harzer zu schwinden und Ahmo unmittelbar vor der Zuschauertribüne zu hocken scheint. Die originalgetreue Übersetzung der Aussagen, die kindliche Verwirrung des alten Mannes - es lässt erahnen, wie unbegreiflich das Geschehene für diese Menschen war und noch immer ist. „Ich verstand es ja gar nicht, überhaupt nicht verstand ich das. Eine andere Religion war Grund genug, um uns umzubringen." Jens Harzer seufzt und schaut zu Boden, als würde seine Rolle als Ahmo ihn erschöpfen. Dann zuckt er resigniert mit den Schultern. Hier sitzt ein Überlebender mitsamt allen Opfern. Und wenn Jens Harzer von den Busfahrten erzählt, die in den Tod führte, und von Ahmos Flucht, wird sein Redefluss nur von bosnischen Klageliedern unterbrochen, die Vernesa Berbo singt. Man versteht kein Wort, das Wehleiden aber vermittelt sich auch so.
Lebendige Denkmäler wie Srebrenica - „I counted my remaining life in seconds ..." sind deshalb so bedeutsam, weil sie es nicht erlauben, zu vergessen, was nicht zu verstehen ist. Wenn ein Überlebender mittels einer geliehenen Stimme und mit unverblümter Klarheit von Massenexekutionen, Massenvergewaltigungen und anderen Ungeheuerlichkeiten berichtet, wagt niemand im Raum wegzuhören. Das ist die Mahnung: Zieht Lehren aus den Gräueln der Geschichte, werdet sensibler und umsichtiger für jede Ungerechtigkeit.
21 Jahre sind seit Srebrenica vergangen. Die Wucht der Schande kann das nicht mildern. Heute mutet es unbegreiflich an, wie ein solches Massaker vor den Augen der Welt stattfinden konnte, wie dieses kollektive Versagen von Militär und Politik unter Preisgabe jeglicher Menschlichkeit möglich war. Doch Kriegsverbrechen sind nicht erst dann welche, wenn sie als solche benannt und angeklagt werden. Die historischen Daten werden davon überlagert, dass in Syrien und an anderen Orten die Menschenrechte Tag für Tag massiv verletzt werden. Auch um sich dessen voll und ganz bewusst zu werden, bedarf es einer Aufarbeitung der Massaker. Jeder hat von Srebrenica zu lernen. Diese Bürde geht uns alle an.
Srebrenica - „I counted my remaining life in seconds ..." Regie: Branko Šimić, Bilddokumentation: Armin Smailovic Thalia-Theater, Hamburg (Gaußstraße)