Von Birgit Raddatz, Berlin
Während der türkische Präsident mit Bundespräsident Steinmeier speist, protestieren tausende Demonstranten draußen gegen den Besuch. Menschenrechtsverletzungen, Krieg, Verfolgung: Die Liste der Anschuldigungen ist lang.
Ezgi steht nahe des Demonstrationswagens auf dem Potsdamer Platz. Nicht ein einziges Mal während der etwa einstündigen Kundgebung lässt die Frau mit den langen braunen Locken ihr Schild sinken. Zu wichtig ist der 20-jährigen Kurdin der Protest gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Ein Teil ihrer Familie lebe nach wie vor in der Türkei, sagt die Lehramtsstudentin. "Ich habe sie erst einmal in meinem Leben besucht, ich reise nicht in ein Land, in dem ein Diktator regiert." Der Staatsbesuch in Deutschland macht sie wütend. Wie die meisten Kurden fordert die gebürtige Hamburgerin, dass Erdogan inhaftierte Journalisten und kurdische Widerstandskämpfer freilässt - und dass er für Verletzungen der Menschenrechte angeklagt wird.
Etwa 1500 Menschen waren zunächst zur "Erdogan not Welcome"-Kundgebung auf den Potsdamer Platz gekommen. Angemeldet waren etwa zehn Mal so viele. Beim späteren Demonstrationszug werden es dann noch knapp 5000. Das Publikum könnte unterschiedlicher nicht sein: Berliner Hipster mit Karohemden und Dr.-Martens-Schuhen stehen neben kurdischen und türkischen älteren Herren, die kaum Deutsch verstehen. Fahnen der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands sowie der türkischen HDP werden geschwenkt, dazwischen Vertreter der Antifa und des linken Spektrums. Auf sie hat die Polizei ein besonderes Auge. Beamte in Zivil machen sich Notizen zu offenbar demonstrationsbekannten Linken. Einer der Veranstalter erinnert daran, dass Symbole und Fahnen der kurdischen Partei PKK verboten sind. Die Menge buht.
"Ein Arbeitsbesuch hätte doch wohl genügt", findet Karin. Auch sie ist wütend. Auf ihrem Schild steht "Ehre, wem Ehre gebührt". Erdogan gebühre diese Ehre nicht, so viel steht für die 75-Jährige fest. "Er stiehlt seinem eigenen Volk die Demokratie, eigentlich wollte ich 'Mörder' auf das Plakat schreiben." Protest findet sie wichtig, aber nicht um jeden Preis. Deshalb habe sie sich diese Demo ganz bewusst ausgesucht. "Neben Leuten von der AfD möchte ich nicht demonstrieren."
Die Außenwirkung soll stimmenVerschiedene kurdische Gruppen, die Jusos sowie die Linke hatten zu der Demonstration am Potsdamer Platz aufgerufen. Ihr Credo: Sich gemeinsam solidarisch zeigen mit den Türken, die nicht hinter Erdogan stehen. Überhaupt geht es vielen Demonstranten hier um die Außenwirkung. Darum, wie Deutschland dasteht, wenn der Bundespräsident und die Kanzlerin den türkischen Präsidenten mit allen Ehren empfangen. "Dass Erdogan uns als Nazi-Deutschland beschimpft, trifft mich persönlich", kritisiert Christian. In Deutschland müsse man wenigstens keine Angst haben, grundlos eingesperrt zu werden, so der 48-jährige Elektriker. Ein paar Demonstranten nutzen diese Freiheit auf ihre Weise. Sie zeigen Plakate, auf denen "Stop the state terror in Turkey", stoppt den Staatsterror in der Türkei, steht. Erdogan trägt darauf ein Hitlerbärtchen.
Mehr zum ThemaWie Ezgi, Karin und Christian wollen auch Archäologiestudent Martin und seine drei Freunde ein Zeichen setzen. "Klar könnten wir jetzt auch was trinken und das Wochenende einläuten. Ich finde es aber wichtiger, hier zu sein", sagt der 20-jährige Manuel. Einer der Jungs macht offenbar beides: Aus seiner Hosentasche lugt eine grüne Bierflasche.
Auf der Bühne kritisiert der Linken-Bundestagsabgeordnete Tobias Pflüger unterdessen die Absperrungen rund um das Regierungsviertel. "Ich habe das Gefühl, unsere deutsche Polizei will hier mal ein bisschen türkische Verhältnisse üben." Der Rest seines Satzes geht unter, weil ein Windstoß die Plane des Demonstrationswagens herunterfegt. Pflüger nimmt es gelassen: "Wir machen weiter - auch unter widrigen Umständen."
Langsam setzt sich der Demonstrationszug in Richtung Schloss Bellevue in Bewegung, wo Erdogan sich mit Bundespräsident Steinmeier zum Staatsbankett trifft. Ezgi versucht, sich durch die Demonstranten hindurchzuschlängeln. Sie will zum Dachverband der Jesidischen Frauen, der an der Spitze der Demo läuft. Denn für die Kurdin gilt jetzt: Bei diesem Protest will sie ganz vorne mit dabei sein.
Quelle: n-tv.de
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