Aufzugfahren war so einfach. Zum Beispiel mit dem Paternoster, der ewig kreisenden Urform des Aufzugs: Einsteigen, warten, wieder aussteigen. Oder mit dem klassischen Büroaufzug: einsteigen, Knopf drücken, aussteigen. Doch die Zeiten mühelosen Liftens sind vorbei. Um in immer höheren Gebäuden eine effiziente Beförderung zu ermöglichen, kommen in der Vertikalen längst hochkomplexe Transportsysteme zum Einsatz: Schon vor dem Einsteigen wählt der Passagier sein Ziel, lässt seine Route durch Algorithmen berechnen, muss dann den ihm zugewiesenen Aufzug erwischen und später an Knotenpunkten umsteigen. Doch der standardmäßig eingesetzte Seilaufzug kommt bei Strecken über 1000 Meter an seine Grenzen. Bei ihm ist die Kabine an Stahlseilen aufgehängt, die oben am Schacht über eine Treibscheibe laufen. Am anderen Ende der Seile hängt das Gegengewicht - dreht sich die Treibscheibe, bewegt sie Kabine und Gegengewicht in entgegengesetzte Richtungen.
Dieser Klassiker ist ineffektiv, platzraubend und unflexibel. Seit Jahrzehnten forschen daher Aufzugbauer an einem Aufzug mit Linearmotor. Nun rückt der vertikale Transport mittels „ Transrapid-Technik" in greifbare Nähe. Doch nicht nur die Antriebstechnik soll ersetzt werden: Die Aufzüge werden auch die Horizontale erobern. Das Verkehrsnetz künftiger Wolkenkratzer steht vor einer Revolution.
Auch der klassische Lift hatte über die Jahrzehnte immer wieder Innovationen zu bieten, beispielsweise in Sachen Geschwindigkeit. Ein gewöhnlicher Aufzug, wie man ihn etwa aus dem Einkaufszentrum kennt, schafft rund einen Höhenmeter pro Sekunde. Wollte man damit den Burj Khalifa erklimmen, müsste man viel Geduld mitbringen: Der Wolkenkratzer in Dubai ist mit seinen 828 Metern derzeit das höchste Gebäude der Welt. Durch seinen mit 504 Metern längsten Aufzugschacht saust ein superschneller Seilaufzug der neuesten Generation. Moderne Liftanlagen, wie sie im Burj Khalifa und im 508 Meter hohen „Taipei 101" in Taipeh, der Hauptstadt von Taiwan, eingebaut sind, schaffen eine Geschwindigkeit von über 17 Metern pro Sekunde. Neben dem Fahrttempo haben die Konstrukteure bei diesen Aufzügen auch die komplette Infrastruktur optimiert.
Umsteigebahnhof in der SkylobbyDie Liftanlagen ähneln einem um 90 Grad gedrehten S-Bahn-Netz: Expresslifts übernehmen den Transport über lange Strecken. Ohne Zwischenstopp kann man sich mit ihnen zum Beispiel von der Eingangshalle in eine sogenannte Skylobby fahren lassen. Dort steigen die Passagiere um zum Regionalverkehr, und kleinere Lifts bringen sie an die gewünschte Endhaltestelle - wobei es vorkommen kann, dass es von der Skylobby wieder ein Stückchen nach unten geht. „Bis zu dreimal Umsteigen kann bei sehr hohen Gebäuden erforderlich sein", sagt Rüdiger Appunn, der als Ingenieur am Institut für elektrische Maschinen der RWTH Aachen an modernen Aufzugkonzepten forscht. 3 der 163 begehbaren Stockwerke des Burj Khalifa beispielsweise sind solche Skylobbys: großräumige, luxuriöse Zwischengeschosse mit Restaurants und Fitnessstudios - und gleichzeitig Umsteigebahnhöfe für vertikale Pendler.
Die Ingenieure haben auch die Transportkapazität pro Aufzugschacht erhöht: Bei Doppeldeckeraufzügen etwa sind zwei Kabinen fest miteinander verbunden, übereinander im gleichen Schacht. So können doppelt so viele Passagiere mitgenommen werden. Nachteil: Die Doppeldecker sind wenig flexibel - teilweise fährt der eine Teil nur die geraden, der andere nur die ungeraden Stockwerke an.
Etwas mehr Spielraum bietet ein „Twin-Aufzug", wie er beispielsweise kürzlich im „Vierzylinder" eingebaut wurde, der markanten BMW-Konzernzentrale in München. Bei ihm fahren zwei Kabinen unabhängig voneinander im gleichen Schacht. Über eine ausgefeilte Mechanik werden die Seile für die untere Kabine seitlich an der oberen vorbei geleitet.
Doch es gibt zwei Einschränkungen: Mehr als die zwei Kabinen pro Schacht sind mit diesem Ansatz kaum möglich - wohin mit den Seilen? Außerdem haben die beiden Fahrkörbe keine Möglichkeit, aneinander vorbei zu kommen. Ein Stau im Schacht blockiert folglich immer beide Kabinen.
Seit Langem träumen Aufzugbauer von einer flexibleren Lösung, einem kontinuierlichen Aufzugsystem. „Das ist so etwas wie der heilige Gral der Aufzugtechnik", sagt Markus Jetter, Forschungsleiter der Firma „ThyssenKrupp Elevator" in Essen. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein System, bei dem eine Kabine nicht fest an einen Schacht gebunden ist - so wie beim guten alten Paternoster: links hoch, rechts runter.
„Der Paternoster ist eines der besten Transportsysteme für Menschen innerhalb von Gebäuden, das je erdacht wurde", schwärmt Jetter. Allerdings musste man Abstriche bei Geschwindigkeit, Sicherheit und maximaler Förderhöhe machen. Eine Kombination von Paternoster und Kabinenaufzügen wäre also ideal. Denn das ganze System gewinnt an Flexibilität, sobald ein Fahrkorb den Schacht wechseln kann. Mit Seilaufzügen geht das nicht. Selbst wenn es technisch möglich wäre, die an einem Seil aufgehängten Kabinen in einen anderen Schacht umzusetzen, käme es zu einem Stahlseilgewirr, sobald mehrere Kabinen pro Schacht unterwegs wären. Es führt kein Weg daran vorbei: Der Antrieb muss sich an Bord einer jeden Kabine befinden.
Kilometer-Marke bald geknacktEin weiterer Punkt spricht gegen den Seilaufzug: die Maximalhöhe. Je länger das Seil ist, desto schwerer wird es. Der Energieverbrauch für den Antrieb dieses zusätzlichen Seilgewichts kann die Liftbetreiber sehr teuer kommen. Denn je schwerer das Seil ist, desto dicker muss es auch sein, um das höhere Gesamtgewicht zu tragen. Und mit der Dicke des Seils steigt sein Gewicht - ein Teufelskreis. Spätestens bei Längen über 1000 Metern würde das Stahlseil schlichtweg unter seinem eigenen Gewicht reißen. Aber der Kilometer soll schon 2019 geknackt werden: Die Bauarbeiten am Kingdom Tower im saudi-arabischen Dschidda laufen auf Hochtouren. Und die Urbanisierung wird noch höhere Häuser erfordern. Seit 2007 leben erstmals mehr Menschen in städtischen Gebieten als auf dem Land. Bis 2050 wird die Stadtbevölkerung nach UN-Schätzungen weltweit um 2,5 Milliarden Menschen wachsen - wobei sich 37 Prozent dieses Zuwachses auf drei Länder verteilen: Indien, China und Nigeria.
In den Städten wird es dadurch immer enger. Ausreichend Platz gibt es nur in der Vertikalen - und Aufzüge sind hier eine Schlüsseltechnologie. Seit jeher geht die Entwicklung von Fahrstühlen und Hochhäusern Hand in Hand. Erst der 1853 von dem Amerikaner Elisha Graves Otis entwickelte absturzsichere Aufzug ermöglichte den Boom der Wolkenkratzer, wie ihn die USA um die Wende zum 20. Jahrhundert erlebten.
Immer häufiger, immer höher wachsen die Hochhäuser seither in den Himmel. Die spektakulären Höhenrekorde, die fast im Jahresrhythmus aufgestellt werden, sind mehr als bloße Statussymbole. Sie sind die effektivste Möglichkeit, mit einer immer knapper werdenden Ressource umzugehen: dem bewohnbaren Raum in den Städten.
Der Linearmotor soll helfen, diese Herausforderung zu meistern. Zwar gibt es schon seit Jahrzehnten Studien, Konzepte und sogar Prototypen in kleinem Maßstab von linearmotorgetriebenen Aufzügen. Gebaut hat sie aber noch keiner. Mit einer im November vorgestellten Konzeptstudie will ThyssenKrupp Elevator nun ein Zeichen setzen: Nach etlichen Machbarkeitsstudien sieht sich der Konzern in der Lage, die Produktentwicklung des Linearmotor-Aufzugs mit voller Kraft anzugehen. Im firmeneigenen Aufzug-Testturm in Rottweil (siehe Infokasten rechts, „Turmbau an der Alb"), der voraussichtlich 2016 fertiggestellt wird, sollen die linearen Prototypen fahren.
„Für das Konzept kommt nur ein sogenannter Langstator-Synchronlinearmotor infrage", sagt Rüdiger Appunn von der RWTH. An Bord der Aufzugkabine befinden sich dabei Permanentmagnete, die als Läufer fungieren. An der Schachtwand ist das Gegenstück angebracht: der Stator. Er besteht aus Hunderten individuell ansteuerbarer Kupferspulen, die über die gesamte Länge des Schachts in einer Linie angeordnet sind. Über das bei Stromfluss durch die Spulen entstehende Magnetfeld werden die an der Kabine angebrach- ten Permanentmagnete angezogen beziehungsweise abgestoßen - und bewegen sich dadurch bei richtiger Taktung entlang des Stators. Das heißt in diesem Fall: nach oben oder unten, je nach der gewünschten Fahrtrichtung.
Bei Zügen und Achterbahnen kommt der Linearmotor längst zum Einsatz. Warum hat es also in der Senkrechten so lange gedauert? Markus Jetter nennt vor allem die zeitraubenden Sicherheitsaspekte. „Der Antrieb an sich hat uns keinen Kummer gemacht. Der Linearmotor ist geprüft und fährt prima. Knackpunkt war die funktionelle Sicherheit." Immerhin gibt es kein Seil, das die Kabine am Absturz hindern könnte. Und auch die vom Stahlseil unabhängige Fangvorrichtung wird bei gängigen Liftanlagen durch ein separates, umlaufendes Kabel mechanisch ausgelöst und kommt für die lineargetriebene Kabine nicht infrage. Der Antrieb kann beim neuen Konzept gleichzeitig als Bremse wirken: Die Kupferspulen können im passiven Zustand, wenn also gerade keine Kabine vorbeifährt, standardmäßig so kurzgeschlossen werden, dass sie als Wirbelstrombremse fungieren und einen abstürzenden Fahrkorb abfangen könnten. Zusätzlich müssen allerdings auch rein mechanische Bremsen entwickelt werden, als doppelte Sicherung.
Ein weiterer Grund für den späten Einsatz des Linearmotors dürfte sein Energieverbrauch sein: Konstruktionsbedingt ist der Luftspalt zwischen Läufer und Stator beim Linearmotor größer als bei einem Elektro-Drehmotor. Dadurch nimmt die Effizienz des Motors ab. Ohne Seil fehlt außerdem das Gegengewicht zur Kabine - es muss also immer das gesamte Gewicht des Fahrkorbs nach oben bewegt werden. Ein Teil der Energie lässt sich zwar auf der Fahrt nach unten zurückgewinnen. Doch unter dem Strich bleibt auf kürzeren Strecken ein höherer Energieverbrauch als beim Seilaufzug.
An der Universität Stuttgart lässt sich der Linearmotor-Aufzug bereits Probe fahren - in der virtuellen Realität. In der „Cave" des Stuttgarter Höchstleistungsrechenzentrums wird der Betrieb des Lifts in Echtzeit simuliert, mit allen Komponenten des Konstruktionsplans und bis ins letzte Detail. Mit 3D-Brille ausgestattet, kann man hier von Stockwerk zu Stockwerk gleiten, alle Funktionen des Aufzugs testen und sich durch die Ebenen des Konstruktionsplans zoomen. Oben angekommen, fährt man einfach wieder nach unten. Man kann aber auch den Aufzugschacht wechseln und auf der anderen Seite hinunter fahren. Über eine Drehmechanik an der Rückseite der Kabine wird die Aufhängung des Fahrkorbs mitsamt einem Teil der Führungsschiene um 90 Grad gekippt und nach kurzer Horizontalfahrt wieder zurückgedreht - im anderen Schacht.
Wie auf dem Highway nach obenTheoretisch sind so beliebig viele nebeneinander verlaufende Aufzugschächte kombinierbar. Das wäre zum Beispiel in der morgendlichen Hauptverkehrszeit nützlich, wenn alle Mitarbeiter ins Büro wollen: Auf jede Fahrt nach oben kommt pro Schacht eine Leerfahrt nach unten. Durch die Möglichkeit eines Schachtwechsels könnten in jedem Schacht viele Kabinen nach oben brausen, eine nach der anderen - und dann, in einem zentralen Schacht gebündelt, wieder nach unten gleiten, wo sie erneut auf die diversen Schächte im Erdgeschoss verteilt würden.
Der Linearmotor ist der Schlüssel zu einem vertikalen Transport, der auf kleinerem Raum mehr Kapazität ermöglicht. Und Platzersparnis ist Trumpf im Aufzug-Business: In Wolkenkratzern sind bis zu 30 Prozent der Fläche jedes Stockwerks durch Liftschächte belegt - Fläche, die keine Mieteinnahmen bringt und die es zu minimieren gilt.
Zwar vermutet der Aachener Ingenieur Rüdiger Appunn, dass die Instal- lation eines Linearmotor-Aufzugs bis zu dreimal so viel kostet wie der Einbau einer herkömmlichen Seilanlage. „Doch die höheren Einnahmen durch die größere vermietbare Fläche machen das langfristig locker wieder wett", meint der Aufzugforscher. Und wann wird der Aufzug mit Linearmotor marktreif sein? Rüdiger Appunn rechnet mit rund zehn Jahren, bis man mit Transrapid-Technik auf die Spitze der höchsten Wolkenkratzer schweben kann. *
von Bernd Eberhart