In seinem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft in München heben sich die wenigen Gegenstände, die Juma Hamisi besitzt, von den blassen Wänden und einfachen Möbeln ab. Die an die Wand gelehnten türkisen Krücken, der rote Tennisrucksack auf dem Spind, das Foto der Mutter auf dem Heizkörper, das Smartphone auf dem Holztisch. Wenn Hamisi seine Geschichte erzählt, dann sind Krücken, Rucksack, Foto und Handy nicht nur Dinge, die die Person ausmachen, die er einst war, sondern Beweismittel.
Juma Hamisi weiß, dass er nicht belegen kann, dass sie in hinter ihm her sind, dass eine Bekannte von ihm ermordet und sein Bruder zusammengeschlagen wurde. Dass er sich gegen die Kriminellen aussprach, die behinderte Kinder aus Dörfern entführen und zum Betteln zwingen. Was er belegen kann, ist eine beginnende Karriere als Talent im tansanischen Rollstuhltennisteam und ihr plötzliches Ende durch die Flucht und das europäische Asylsystem, das sich ihm besonders absurd zeigt. Und seine Ängste.
Ein Psychiater attestierte ihm Depressionen und Schlaflosigkeit, die das Warten weit weg von seiner Familie ausgelöst haben. Die Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) versichern ihm in Behördendeutsch, dass er spätestens Ende Mai nach Spanien abgeschoben wird - ein Land, in dem er noch nie war und dessen Sprache er nicht kennt.
Hamisi wirkt nervös, als er seine Geschichte zu erzählen beginnt. "Seit ich angefangen habe, Tennis zu spielen, kämpfe ich für ein gutes Leben", sagt er in dem klaren Englisch, das er neben seiner Muttersprache Swahili spricht. Er nimmt sein Smartphone in die Hand und hat schnell das Video bereit, das er in Deutschland bereits vielen gezeigt hat. Es ist ein kurzer Beitrag, den die BBC im Jahr 2017 sendete. Er trägt den Titel Tanzanias Wheelchair Tennis Star und zeigt den damals 20-Jährigen beim Training auf einem Court in Daressalam.
Zu dieser Zeit gilt er demnach als drittbester Spieler Ostafrikas und sein Nationalteam als die Nummer eins auf dem Kontinent. Die Sprecherin erzählt nüchtern von seinem Unfall, über den Hamisi bis heute nur schwer sprechen kann: Im Jahr 2011 verliert ein Busfahrer an einer Haltestelle in Daressalam die Kontrolle über sein Fahrzeug und rammt den wartenden Schüler. Sein linkes Bein wird knapp unter dem Knie abgetrennt. Seitdem sitzt er im Rollstuhl oder geht mit einer Prothese.
Als das Video vorbei ist, verweilt Hamisis Blick auf dem dunklen Bildschirm, in dem sich sein Gesicht unter dem grellen Deckenlicht spiegelt. Seine Haare sind länger als damals. Er lässt sich am Kinn mittlerweile einen Bart stehen. Er trägt Jeans und Hemd statt Shorts und Shirt. Seine Augen sind müde, sein Lächeln ist matt geworden.
Ein Jahr nach seinem Unfall beginnt im Leben von Hamisi eine unerwartet glückliche Zeit. In der Schule begann er, Tennis zu spielen. Beim Training lernt er den ebenfalls gehbehinderten Novatus Temba kennen, der später als sein bester Freund mit ihm nach Deutschland fliehen wird. Ein paar Handyfotos dokumentieren eine aufregende Zeit im Leben der beiden jungen Männer: Temba und Hamisi im Flugzeug auf den Weg zu einem Turnier in die Türkei. Hamisi mit einem anderen Spieler auf einem himmelblauen Court in Sri Lanka. Ein Foto, auf dem er plakativ mit dem Tennisschläger in der Hand ein Interview gibt.
"Damals war ich so etwas wie eine Celebrity", sagt er. "Ich war in den Nachrichten, im Fernsehen." Andere Reisen führen ihn nach Stockholm in Schweden, wo er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Club feiern geht, und nach Abuja in Nigeria. Nach der Schule wechselt Hamisi auf die Universität von Daressalam, um Informatik zu studieren. Nach einem Semester gibt er das Studium auf, verdient als Kleiderhändler seinen Unterhalt und trainiert viermal die Woche. Er will einer der Besten werden.
Bei einem Wettbewerb in Tansania, sagt Hamisi, lernt er die Behindertenaktivistin und Journalistin Blandina Sembu kennen. Sie arbeitet zu jener Zeit beim tansanischen Ableger des britischen Senders ITV und gilt dort als Vorbild für Menschen mit Behinderung. Für das, was Hamisi als Nächstes erzählt, gibt es seiner Ansicht nach nur drei Mitwisser. Eine von ihnen ist heute tot. "Mein Herz ist weich", sagt er. "Ich habe anderen behinderten Menschen Ratschläge gegeben."