"Da wird ja eher für Personen gestimmt, nicht für die Partei", sagt Gerhard Lemm, der gerade in den Ledersessel am Besprechungstisch seines Büros geglitten ist. Das Kommunale lasse sich nur schwer mit Landes- oder Bundespolitik vergleichen, betont der Bürgermeister des Städtchens. Draußen scheint die Sonne auf die Altstadt, die so gepflegt und sauber ist, dass sie an einen Touristenort in der Schweiz erinnert. Diesen Vergleich habe er schon öfter gehört, sagt er. Lemm ist seit 1994 ununterbrochen Bürgermeister dieser Stadt, er wurde zuletzt mit 96 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Ja, 96. Er gehört der SPD an, und diese Stadt ist Radeberg - mitten in Sachsen, wo seiner Partei ein historischer Absturz bevorsteht. Ein bisschen ungewöhnlich ist das alles - trotz aller Unvergleichbarkeit - schon, oder? Lemm lächelt. "Vielleicht."
Warum wählen die Menschen ausgerechnet hier fast ausnahmslos einen Sozialdemokraten? "Das müssen Sie schon die Menschen fragen", entgegnet er. "Nein, ich glaube, ein Stück weit vertrauen mir die Menschen", sagt er. Für ihn zähle ein alter Grundsatz. "Sagen, was man tut und tun, was man sagt. Das sollte jeder Politiker machen. Ich versuche, das zu leben." Vertrauen, Transparenz, Verlässlichkeit - Werte, die viele Menschen derzeit nicht unbedingt mit der SPD in Verbindung bringen.
Sozialdemokratische Politik auf Kommunalebene - funktioniert das überhaupt? Lemm sagt, "Es gibt keine christdemokratischen oder sozialdemokratischen Straßen. Es gibt nur gute oder schlechte Straßen." Aber auch in einer Kleinstadt könne man Akzente setzen. "Natürlich versuche ich, das soziale Klima in der Stadt zu halten." Radeberg sei die erste Stadt in Sachsen, in der freiwillige Feuerwehrleute eine Aufwandsentschädigung bekommen. Solche kleinen Projekte seien schon möglich.
Lemm, in Mönchengladbach großgeworden, kam 1990 nach Radeberg. Damals war er bei der Deutschen Angestelltengewerkschaft. 1994 ließ er sich für die erste Bürgermeisterwahl in der 19.000-Einwohner-Stadt aufstellen. In dieser Zeit schien seine Wahl eher unwahrscheinlich. Radeberg war in den Nachwendejahren eine CDU-Hochburg, fast 60 Prozent wählten die Partei bei der ersten Bundestagswahl. Lemm holte trotzdem die absolute Mehrheit. Und im Gegensatz zu seiner Partei gewann er in den Folgejahren immer weiter an Zustimmung: erst 78, im Jahr 2008 dann 81 und 2015 eben 96 Prozent. Die CDU hatte bei der letzten Wahl erst gar keinen Gegenkandidaten aufgestellt.
Und, fragen ihn die Menschen in Radeberg manchmal, was mit "seiner" Partei auf Bundesebene eigentlich los sei? Lemm lacht. "Ja, in letzter Zeit schon recht häufig." Dann verschwindet das Lachen schnell aus seinem Gesicht, und er sagt: "Übermäßig glücklich macht mich das ja auch nicht." Der Zustand der SPD, ein riesiges Thema. Er wisse gar nicht, wo er anfangen solle. "Das ist so eine lange Kette." Er zählt auf: erst Hartz IV, "da hätte man nachbessern müssen". In die "erste richtige Falle" sei die Partei aber 2005 gelaufen. Die SPD war gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die CDU wollte zwei Prozent mehr. Und als Kompromiss haben sie sich dann auf eine Erhöhung von drei Prozent geeinigt. "Das kannst du wirklich keiner Sau mehr verkaufen", sagt Lemm mit seinem rheinischen Akzent. Ihm fällt noch mehr ein: erst die Groko ablehnen, dann mitregieren. Dann habe Martin Schulz erst gesagt, er sei nicht fürs Kabinett zu haben - und wollte dann plötzlich Außenminister werden. "So kann man mit den Leuten nicht umgehen", findet Lemm. Sagen, was man tut und tun, was man sagt.
Der SPD droht bei der Landtagswahl in Sachsen ein Debakel, das wahrscheinlich schlechteste Ergebnis seit der Wiedervereinigung. Lemm versucht es mit Galgenhumor. "Wenn wir bei acht oder neun Prozent gelandet sind, können wir uns vielleicht damit brüsten, dass wir die geringsten Verluste aller Landesverbände hatten - weil es einfach nicht mehr viel zu verlieren gibt." Dem Spitzenkandidaten Martin Dulig will er die Schuld dafür aber nicht geben. "Der denkt in die richtige Richtung und rackert sich ab." Es sei der Bundestrend. Hinzu kämen historische Fehler. Nach der Wende sei die SPD im Osten eine "elitäre Veranstaltung" gewesen. "Jeder, der auch nur einmal bei einer SED-Veranstaltung war, wurde gar nicht erst aufgenommen. CDU und PDS hingegen hätten die Reformkräfte integriert, sich "breit aufgestellt", große Wahlkämpfe organisiert. "Wir konnten mit unseren drei Leuten dann gucken, wo wir bleiben." Zurückblickend betrachtet sei das "ein riesiger struktureller Nachteil".
In dieser Zeit ließen sich nicht nur Gründe für die Schwäche der SPD, sondern auch die Stärke der AfD finden, sagt Lemm. Die Biografie-Brüche nach der Wende, die exorbitant hohe Arbeitslosigkeit, dass Menschen aus ihrem Leben "herausgerissen" wurden, nie wieder hereingefunden hätten, das beschäftige manche bis heute. "Die Angst, dass etwas passieren könnte, ist hier stärker verbreitet", sagt Lemm. "Man hat hier - wenn auch vor einer Generation - ja schon einmal gesehen, wie ein ganzes Staatswesen zusammenbricht mit allen Konsequenzen, die das für jeden einzelnen hatte." Diese Brüche habe es im Westen nicht gegeben. Und die Angst vor einem solchen, erneuten Bruch zu schüren, sei "im Wesentlichen die Strategie der AfD".
Angst vor dem Ausgang der Landtagswahl, bei der die AfD als stärkste Kraft in das Dresdner Parlament einziehen könnte, hat er aber nicht. Die Partei komme ja nicht in Regierungsverantwortung. Aber "es wird dem Land natürlich nicht guttun", sagt Lemm. Vergleiche man die Ergebnisse der Rechtspopulisten in Sachsen bei der Europawahl 2019 mit der Bundestagswahl 2017, zeige sich ja sogar ein leichter Abwärtstrend. Grundsätzlich jedoch verstetige sich die AfD. "Das hätte ich so nicht erwartet."
Bei der Stadtratswahl in Radeberg musste auch Lemms SPD einbüßen und landete nur noch an vierter Stelle. Vier Abgeordnete stellt inzwischen die AfD. Eigentlich sind es sechs, aber die Partei hat nicht genug Kandidaten aufgestellt. Und wie klappt die Zusammenarbeit? Noch hat das Ortsparlament nicht getagt, aber der Bürgermeister will gesprächsbereit bleiben. Die AfD als Ganzes halte er für "zunehmend rechtsextrem". Was Radeberg angeht, wolle er "mal abwarten, was das für Leute sind". Bisher erschienen sie ihm recht "planlos". Vor der Wahl habe er gesagt, er könne eigentlich mit jedem Wahlprogramm leben - nur von der AfD habe es keins gegeben. "Die haben dann noch auf die Schnelle Zeitungsanzeigen geschaltet mit ein paar Überschriften." Kommunalpolitische Themen seien nicht dabei gewesen, außer: die Abschaffung der Straßenbaubeiträge. "Ja, da könnte man im Stadtrat drüber streiten. Das Problem ist nur, wir zahlen hier überhaupt keine."
Der Abwärtstrend der SPD kann einem Gerhard Lemm in seinem Bürgermeisterbüro am schönen Marktplatz in Radeberg bisher nichts anhaben. Sein Job scheint einzig mit seiner Person verknüpft zu sein. Auf Kreis-, Landes und vor allem Bundesebene sieht das anders aus. Doch was ist zu tun? "Eigentlich müssen wir raus aus der GroKo", sagt er. Raus aus der Regierungsverantwortung und mit einem "charismatischen Führungsduo" einen Neuanfang machen, sei eine Möglichkeit.
Wer denn zum Beispiel? Gesine Schwan und Ralf Stegner? Er schaut ratlos. Stegner sei ein "hochintelligenter Mann", Schwan eine "intellektuelle Bereicherung". Aber Stegner müsse mal jemand das Lächeln beibringen und Schwan - "wenn ich die mir bei einer Bierzeltrede vorstelle...". Er spricht den Satz nicht zu Ende. Lars Klingbeil: kaum massentauglich; Kevin Kühnert: muss noch auswachsen; Malu Dreyer: zu krank; Karl Lauterbach: "Der wäre ein toller Gesundheitsminister. Als Vorsitzender bringt er uns den Gnadenschuss." Und Olaf Scholz? Der habe in schwierigen Zeiten zwar Wahlen gewonnen. "Aber ob er für einen wirklichen Neuanfang steht, wage ich zu bezweifeln." Franziska Giffey, die allerdings nicht antritt, würde ihm als Parteichefin gefallen. "Wenn die nicht ihren Krempel mit der Doktorarbeit hätte." Oder Stephan Weil, "aber der ziert sich ja". Er seufzt. "Sie sehen, es ist nicht einfach."
Gerhard Lemm wird noch drei Jahre als der 96-Prozent-Bürgermeister weiterregieren. Dann will er aber aufhören, und es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass Radeberg mitten in Sachsen noch einmal zu einer kleinen SPD-Bastion wird. Nochmal zu kandidieren, kommt für ihn jedenfalls nicht infrage. "Dann müsste ich weitermachen, bis ich 70 bin. Ich bin Sozialdemokrat und habe gegen die Rente mit 70 gestimmt." Sagen, was man tut und tun, was man sagt.