Nicht mehr von Parteien und ihren Politikern abhängig sein, sondern selbst Probleme anpacken und lösen: Das verbinden viele mit eingereichten Petitionen oder Bürgerräten. Diese direkte Demokratie kann funktionieren, hat aber auch ihre Tücken.
Schmähungen, Wut
und Aufbegehren im Regierungsviertel – Tausende demonstrieren hier im
August in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Es sind
oft die radikalen Stimmen, die Gehör finden, die Pandemieleugner und
Impfgegner. Doch durch den Umgang mit dem Corona-Virus hat die Politik
auch in breiteren Teilen der Bevölkerung Vertrauen verloren. Das zeigen
Umfragen immer wieder. Doch es gibt ein Mittel, das Abhilfe schaffen
soll, und das kommt in seichteren Tönen daher als die wütenden
Corona-Proteste:
„Welche Veränderungen wollen Sie, willst du,
wollen wir? Wir können die Politik dabei unterstützen, die Weichen für
eine lebenswerte Zukunft für alle zu stellen. Zusammen können wir
Antworten auf die dringendsten Fragen unserer Zeit finden.“
Werbung für den jüngsten Bürgerrat, ein Gremium, das die Bevölkerung an
politischen Lösungen beteiligen und Demokratie ein wenig direkter
machen soll. In diesem Fall geht es um den „Bürgerrat Klima“, der bis
Ende Juni abgehalten wurde. 160 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und
Bürger suchten gemeinsam mithilfe von Fachleuten und Politik nach Wegen
aus der Klimakrise und formulierten am Ende Empfehlungen für die
Bundesregierung. Solche Bürgerräte gibt es in den Kommunen schon länger,
in der Bundespolitik stehen sie noch am Anfang. Der Wuppertaler
Politikwissenschaftler Hans Joachim Lietzmann sieht in ihnen eine Chance
für die Politik, Vertrauen zurückzugewinnen.
„Viele Menschen
erkennen sich nicht mehr in den Parteien, in den Parlamenten. Wir haben
eine unsichtbare Institution: das Vertrauen in das politische System.
Und dieses Vertrauen ist massiv geschwunden. Wir brauchen neue
Möglichkeiten, die Gesellschaft sichtbar werden zu lassen – und zwar für
sich selber. Dass sie nicht nur repräsentiert wird, sondern dass sie
sich repräsentiert sieht, dass sie sich aufgehoben fühlt in den
politischen Systemen. Und ich denke, Bürgerräte können einer der Wege
dorthin sein.“
Wie viel direkter Einfluss ist sinnvoll?
Diese
Form der Bürgerversammlung wirft eine grundlegende Frage auf: Wie viel
direkten Einfluss sollen Bürgerinnen und Bürger in einer repräsentativen
Demokratie haben – neben ihrer Teilnahme an Wahlen und dem
gelegentlichen Besuch im Wahlkreisbüro ihrer Bundestagsabgeordneten?
„Ich glaube, es ist wirklich wichtig für Bürgerinnen und Bürger, dass
sie eine Erfahrung von Wirksamkeit habe und dass sie eine Erfahrung
haben, dass Politik funktioniert, insbesondere dann, wenn sie sich
einbringen.“
Sagt Jascha Rohr vom Oldenburger Institut für
Partizipatives Gestalten, der seit Jahren Bürgergremien organisiert und
begleitet. Eigentlich wollte die Bundesregierung eine Antwort darauf
finden, wie viel Bürgerbeteiligung es geben soll. Im Koalitionsvertrag
von 2018 vereinbarten die Unionsparteien und die SPD die Einberufung
einer Expertenkommission zum Thema, die durch ein Bürgergremium
begleitet werden sollte.
Erwartungen an die nächste Bundesregierung
Die
Expertenrunde kam nie zustande, wohl aber ein Bürgerrat zum Thema
Demokratie – mithilfe engagierter Initiativen und Stiftungen. Es folgten
ein weiterer Rat zu Deutschlands Rolle in der Welt sowie der jüngste
zum Klima. Die SPD-Abgeordnete Martina Stamm-Fibich hofft, dass die
nächste Bundesregierung diese Bürgerbeteiligung stärker verinnerlicht.
„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Instrumente haben, dass
es jetzt aber an den handelnden Akteuren der nächsten Koalition liegen
wird, es auszubauen und es so zu machen, dass wir einen direkten Draht,
wie es eigentlich im Grundgesetz geht, in die Parlamente verankern. Weil
ich glaube, dass wir in vielen komplexen Fragen viel besser erklären
und vermitteln müssen.“
Stamm-Fibich sitzt im
Petitionsausschuss des Bundestags, der den Bürgern auch bisher schon die
Möglichkeit bietet, Kontakt mit den Parlamentariern aufzunehmen und
Anliegen vorzutragen. Jeder kann eine Petition an den Bundestag richten –
und immer mehr Menschen tun es. Insgesamt reichten Bürgerinnen und
Bürger im vergangenen Jahr 14.314 Petitionen ein, 785 mehr als 2019.
Wenn eine Petition mindestens 50.000 Unterschriften erhält, muss der
Petitionsausschuss darüber befinden, ob sie im Parlament öffentlich
beraten wird.
Erfolgreiche „Tampon“-Petitionen
Ein
besonders erfolgreiches Beispiel: Der Beschluss von Ende 2019, Tampons,
Binden und andere Monatshygieneartikel mit dem gemäßigten Satz von
sieben Prozent zu besteuern, ging auf eine Petition zurück.
„Petitionen sind wirklich ein gutes Mittel, um Anliegen in das Parlament
zu bringen“, sagt die Abgeordnete Stamm-Fibich. Umstritten ist, ob die
Petition ausreicht und wie viel Bürgerbeteiligung es darüber hinaus
geben soll.
Der FDP-Abgeordnete Manfred Todtenhausen, ebenfalls
Mitglied im Petitionsausschuss, glaubt nicht, dass Bürgerinnen und
Bürger noch direkter an der Politik im Bund beteiligt werden müssen.
„Auf Bundesebene ist es ja so, dass wir ein Parlament gewählt haben, wo
die Entscheidungen gefällt werden, aber sich ja trotzdem jeder Einzelne
an das Parlament wenden kann. Und wir merken das ja, wir sind ja quasi
der Seismograf draußen in der Bevölkerung.“
Pro und Contra Bürgerrat
Bürgerräte hält Todtenhausen für sinnvoll, wenn kommunal Entscheidungen getroffen werden sollen, nicht aber im Bund.
„Es ist meiner Ansicht nach ein Ausnahmephänomen, weil, wie setzen sich
die Bürgerräte zusammen? Aus zufälligen Leuten, manche sind gar nicht
interessiert daran, teilzunehmen, manche sind zwangsweise dabei. Man
muss jeden Einzelnen immer wieder aufs Neue darauf hinweisen. Ich
glaube, das ist zu kompliziert.“
Befürworter halten allerdings
gerade dieses Zufallsprinzip für eine der großen Stärken des Bürgerrats.
So kämen auch Menschen zu Wort, die sich sonst aus eigenen Stücken kaum
an politischen Fragen beteiligten, sagt Hans Joachim Lietzmann vom
Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung der Universität
Wuppertal.
„Das Wesentlich an diesen Bürgerräten ist, dass sie
per Zufall ausgewählt sind. Das ist etwas anderes als eine
Bürgerversammlung in der Kommune. Ein überraschtes Klientel, die nicht
erwartet hatten, dass sie zu der Frage befragt werden, aber sehr angetan
sind in der Regel und einen sehr breiten Querschnitt der Gesellschaft –
man könnte fast sagen, eine Repräsentanz der Gesellschaft, –
darstellen.“
Die Gefahr von Enttäuschungen
Eine Gefahr
allerdings sehen auch die Befürworter: Dass die Bürgerräte zwar
Ergebnisse und Empfehlungen erarbeiten, dann aber kaum Beachtung finden.
„Weil dann Bürgerinnen und Bürger, die sich da engagiert
haben, enttäuscht werden und das Format dann nachträglich eigentlich den
gegenteiligen Effekt hat und zu noch mehr Politikverdrossenheit führt“,
sagt Politikberater Jascha Rohr.
Er hofft, dass die kommende
Bundesregierung auf die Empfehlungen des „Bürgerrats Klima“ hört, der
sein Gutachten in den kommenden Tagen vorstellt. Eine Forderung:
Klimaschutz soll ein Menschenrecht und alle künftigen Gesetze darauf
geprüft werden. Rohr glaubt: Wenn die Politik jetzt zuhört, ist für die
Bürgerbeteiligung viel gewonnen.
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