Er schreibt den Abschiedsbrief vermutlich in seinem Einfamilienhaus in Königs Wusterhausen, die Einfahrt ist gepflastert, der Garten ist gepflegt. Er schreibt mit Stift auf Papier: "Wohin führt das, wenn nicht in den Faschismus?" Fast zwanzig Seiten sind es, er notiert: "Ich habe einen Fehler begangen. Ich habe meiner Frau das gefälschte Zertifikat besorgt, dieser Fehler ist unser Verhängnis." In der Nacht zum 3. Dezember 2021, klarer Himmel, zwei Grad unter null, erschießt er seine Frau, seine drei Töchter, sich selbst.
Drei Monate später sitzt Oberstaatsanwalt Gernot Bantleon an seinem Schreibtisch in Cottbus, vor ihm liegen die Akten. Dabei auch eine Kopie des Abschiedsbriefes von Devid R., 40 Jahre alt, Ingenieur und Berufsschullehrer. "Das ist ein riesiges Motivbündel, das er da anbietet", sagt der Oberstaatsanwalt.
Was hat Devid R. zu dieser Wahnsinnstat getrieben? Wieso entschied er über das Leben seiner Frau Linda, gleich alt, angestellt in der Verwaltung der Technischen Hochschule Wildau? Über das seiner drei Töchter, vier, acht und zehn Jahre alt? Wegen eines gefälschten Impfzertifikates, einer Urkundenfälschung? Und was hat diese Tat mit denen zu tun, die sich Querdenker nennen, nicht an den Sinn von Impfungen glauben und sich staatlichen Maßnahmen widersetzen?
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Mit diesen Fragen fahren wir nach Königs Wusterhausen, einer Kleinstadt in Brandenburg. Im Ortsteil Senzig lebte die . Wir sprechen mit Psychologen, Ermittlern, Freunden, Arbeitskollegen und Impfgegnern. Ihre Auskünfte fügen sich zu einer Geschichte über Angst. Angst vor der Politik. Angst vor der Wissenschaft. Angst vor einer Welt, die man nicht mehr zu verstehen glaubt.
Zehn Tage nach der Tat rufen die "Freiheitsboten" in Königs Wusterhausen zu einem "Montagsspaziergang". Die Nachrichten der Telegram-Impfgegner las auch Devid R. Am Kirchplatz reihen sich Mannschaftswagen der aneinander. Zwei Teilnehmerinnen ziehen Signalwesten an: Sie gehören zum Organisationsteam. Eine sagt, der Tod der Familie R. sei schrecklich. Sie hätten beim Vorbereitungstreffen eine Schweigeminute für die Familie abgehalten, Devid habe den "Freiheitsboten" nicht angehört. Die andere trägt ein Pappschild: "Impfen = Genozid".
Bei der Abschlusskundgebung singen 850 Demonstranten: "Die Gedanken sind frei, doch kann man sie lenken, durch Bill Gates und die Banken, den Impfstoff-Lieferanten." Eine Frau im weißen Wintermantel bietet schüchtern Flyer für "Die Basis" an. Auch Devid R. war Mitglied. Die Partei versammelt Impfgegner, unterhält gute Verbindungen zur AfD, fordert schon lange die Abschaffung aller Corona-Schutzmaßnahmen. Die Frau klingt betroffen: Devid müsse ein passives Mitglied gewesen sein. "Wäre er zu unseren Treffen gekommen, hätten wir ihn vielleicht auffangen können", sagt sie. Dann ziehen andere sie weg, Pressefragen nur an die Zentrale in .
Ein paar Wochen später: Berliner Speckgürtel, verklinkerte Reihenhäuser unter diesigem Winterhimmel, Thujahecken. Ein paarmal am Tag rauscht der ICE nach München vorbei. "Bis 1999 war hier alles Feld", sagt einer, der erst Arbeitskollege war, dann ein Freund von Devid R. wurde. Am Klingelschild steht der Name eines Karnevalsvereins.
Der Mann will Klaus genannt werden. Seine Frau schlägt für sich Antje vor. Beide haben mit Devid R. in der Berufsschule gearbeitet, saßen im Lehrerzimmer über Eck am selben Tisch. Ihre richtigen Namen wollen sie nicht gedruckt sehen: Sie haben Angst vor Schlagzeilen, wütenden Querdenkern und davor, dass ihr Verein Schaden nimmt.
Im Reihenhaus hinter der ICE-Trasse redet vor allem Antje. Auf dem Tisch steht eine Thermoskanne, die Tüte Haribo geht zur Neige. Sie erinnert sich, wie sie als Clown bei der Einschulungsfeier der ältesten Tochter der Familie R. auftrat, wie ihr Mann bei einer anderen Feier den DJ machte. Devid hatte den Sportplatz organisiert, gut dreißig Familien waren dabei, er mittendrin.