Psychische Belastung am Arbeitsplatz? Gab's schon immer. Diese Meinung vertritt Arbeitswissenschaftler Prof. Sascha Stowasser, der dazu heute vor Arbeitgebern in Berlin spricht. Er sieht zwar die Unternehmen in der Pflicht, wehrt sich im heute.de-Interview aber auch gegen Stress-Mythen.
heute.de: Arbeit gilt als Stressfaktor Nummer eins, oft sind Frührenten psychisch bedingt. Ist die deutsche Psyche krank?
Sascha Stowasser: In Anbetracht der öffentlichen Debatte könnte man das vermuten. Richtig ist, dass die Bedeutung und Enttabuisierung psychischer Störungen in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen ist. Tatsache ist aber auch: Ein eindeutig anhaltender Anstieg psychischer Störungen in der Gesellschaft liegt nicht vor. Langzeitstudien belegen: 30 Prozent der Deutschen erleiden innerhalb eines Jahres ein- oder mehrmals psychische Störungen - diese Häufigkeit ist seit Jahrzehnten unverändert. Dennoch: In Anbetracht der hohen Dimension besteht Handlungsbedarf.
heute.de: Was können die Unternehmen konkret machen?
Stowasser: Ein Beispiel: Fehlen dem Beschäftigten korrekte Arbeitsanleitungen, sollten verständliche Informationen bereitgestellt werden - sonst kann dies dauerhaft negative Stressfolgen haben. Darüber hinaus können Unternehmen etwa Führungskräfte schulen, um Anzeichen für psychische Störungen bei Mitarbeitern zu erkennen und mit diesen darüber zu sprechen. Stressbewältigungstrainings oder Stress-Sprechstunden für die Mitarbeiter stellen zudem den Menschen in den Mittelpunkt.
heute.de: Gibt es das: steigender Druck, ständige Erreichbarkeit, latente Angst vor Arbeitslosigkeit?
Stowasser: Subjektiv werden tatsächlich Arbeitsverdichtung, Termin- und Leistungsdruck, häufige Störungen oder ständig wiederkehrende, monotone Arbeitsvorgänge von den Beschäftigten am häufigsten genannt, wenn sie nach psychischer Belastung befragt werden. Letztendlich wissen wir aber viel zu wenig darüber, ob und wie diese Auswirkungen langfristig psychisch krank machen. Da muss noch viel geforscht werden. Beispiel "Ständige Erreichbarkeit": Gegenwärtig herrscht in unserer Gesellschaft ein Bild der ständigen und allerorts notwendigen Erreichbarkeit durch den Beruf vor. Dabei zeigt der DAK-Gesundheitsreport von 2013, dass nur eine Minderheit von zwei Prozent der Befragten täglich oder fast täglich mit Anrufen konfrontiert werden. Knapp 85 Prozent werden gar nicht oder seltener als einmal die Woche kontaktiert.
heute.de: Das Institut für angewandte Arbeitswissenschaft ist über 50 Jahre alt. Wie stark gewann das Thema seitdem an Bedeutung?
Stowasser: Für unsere Arbeit spielt die "psychische Belastung" seit ungefähr 15 Jahren eine wichtige Rolle. In diesem Zeitraum entstanden auch internationale Normen und Instrumente zum Umgang mit der psychischen Belastung am Arbeitsplatz. Ich vergleiche die Situation gerne mit der des klassischen Arbeitsschutzes vor einigen Jahrzehnten. Damals haben die Unternehmen sich sukzessive Wissen und Methoden zur Bewältigung der körperlichen Belastung angeeignet. Heute ist der klassische Arbeitsschutz weitgehend selbstverständlich. Ich gehe davon aus, dass auch der Umgang mit der arbeitsbezogenen psychischen Belastung in wenigen Jahren Normalität wird.
heute.de: Der DGB fordert seit längerem eine Anti-Stressverordnung. Brauchen wir die?
Stowasser: Nein. Die gültigen Rechtsvorschriften schreiben bereits vor, dass der Arbeitgeber körperlich und geistig wirkende Gefährdungen bewerten muss. Damit sind psychische Belastungen am Arbeitsplatz erfasst! Zudem gehört unbedingt auch der eigenverantwortliche Umgang der Beschäftigten mit ihrer Gesundheit dazu. Das kann nicht gesetzlich geregelt werden.
Professor Dr. Sascha Stowasser ...
... ist Arbeitswissenschaftler und leitet seit 2008 das Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) in Düsseldorf. 1962 wurde es vom Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie gegründet. Das Institut erforscht die Arbeitswelt, um letztlich die Produktivität in den Unternehmen zu steigern.
Stowasser: Viele Unternehmen packen das bereits an. Man nimmt das Thema ernst, die gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung wird dort längst umgesetzt. Auch freiwillige Gesundheitsprogramme laufen. Ich kenne einige Unternehmen, die sich gegenwärtig in der Phase der Einführung und Sensibilisierung befinden. Mit Sicherheit gibt es aber noch viel zu tun, um den vorhandenen Status quo in den einzelnen Betrieben zu verbessern.
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