Smart Textiles, Kleidung aus dem 3D-Drucker, intelligente Wearables am Handgelenk, algorithmisch optimierte Stilberatung. Dort, wo einst sinnliche Stoffe, raffinierte Schnitte, zeitloses Design oder bahnbrechende Avantgarde zusammentrafen und sich zu einer ganz eigenen Melange aus persönlichem Stilempfinden und brillanten Ideen eines Modemachers vermischten, dort greift sie an. Der Schauplatz: unser Körper. Als Hauptakteur tritt auf: die Digitalisierung.
Atmungsaktiv muss sie sein, aber zugleich windresistent: Längst hat Funktionskleidung den Einzug in unsere Kleiderschränke gehalten, sie überschwemmt den deutschen Modemarkt ähnlich hinterfragungswürdig wie die Plastiktüten, die sich der Weltmeere bemächtigen. Das Farbspektrum von Einheitsgrau bis Neonfarben ist annähernd so vielfältig wie die Stoffe, Schnitte und ... Formen. Form follows function - bei der Übertragung des zum Slogan gewordenen Produktdesigner- und Architekten-Leitsatzes der Nachkriegs-Moderne auf die Modebranche kräuseln sich die Lippen von Barbara Vinken, die als Professorin für Romanistik an der LMU München Textiles ebenso wie Texte analysiert.
"Funktionskleidung ist eine Ideologie der Moderne - die zu 90 Prozent zum Weglaufen aussieht. Man muss unbedingt etwas gegen diese Ästhetik der Moderne tun", stellt Barbara Vinken entschieden fest. Wir haben die Modetheoretikerin in ihrem Büro in der Schellingstraße zum Gespräch getroffen, um uns überzeugen zu lassen: Das Potential von Mode als Gradmesser für gesellschaftliche Veränderung wird durch die Digitalisierung nicht geringer.
Mode ist immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, Mode ist also auch ein Politikum. Für Vinken bleibt der häufig erhobene Vorwurf, dass sich Kleidung letztlich doch nur mit Oberflächlichem, mit Äußerlichkeiten beschäftigt, unverständlich. Wenn man zum Beispiel auf die historische Entwicklung der Funktionskleidung blickt, zeigt sich im Tragen von Arbeiterkleidung auch die Auseinandersetzung mit dem Anderen: die Matrosenhemden der bretonischen Fischer, später die Jeans der kalifornischen Goldgräber. "Was passiert da eigentlich? Und warum ist es so interessant, sich die Matrosen-Ringelhemden oder die Goldgräber-Jeans anzuziehen? Darauf hat die Moderne immer die Antwort gegeben: weil es funktional ist. Und diese Antwort ist nicht ganz falsch, ich glaube aber, dass sie zu kurz greift. Es handelt sich auch um das Adaptieren des Anderen. Man zieht sich den Anderen an."
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Frauen noch Röcke trugen konnte man sich vom "Anderen" - ob nun sozial oder geschlechtsspezifisch - noch sehr einfach differenzieren. Haben wir seither alle Optionen durchgespielt? Alle Rollen ausprobiert, alle Tabus gebrochen? Bleibt uns nur noch die Angleichung zum Unisex und zu hypermoderner Funktionskleidung, die zukunftsfähig sein soll?
Sinnlichkeit und Textilkunst - die Gegenbewegungen zur Fast Fashion
Beim Bummel durch Münchens Innenstadt möchte man sich an Li Edelkoort erinnert fühlen. Die niederländische Trendforscherin hat unlängst den Tod der Mode ausgerufen. Mit Azzedine Alaïa sei, und darin stimmt sie mit Barbara Vinken überein, der letzte große Modekreateur überhaupt verstorben. "Eine ganz neue Gestaltung der Silhouette," erklärt Vinken. "Ich kenne keinen anderen, dem es durch Strick gelungen ist, die Silhouette völlig neu, nämlich ohne Unterkleider, zu projizieren. Das ist eine Kunst, die großes historisches Wissen voraussetzt. Die Technik mit historischem Wissen und einem klaren Ideal verbindet. Das ist es, was einen großen Designer ausmacht." Aufgabe der Mode sollte immer sein, den Körper zu formen, die Silhouette zu definieren - und eben nicht durch Gymnastik und Sport das Körperbild zu bestimmen. Was bleibt nach der Mode? Laut Edelkoort die Kleidung einer Branche, die auf Massenproduktion und Wegwerftextilien setzt.
Der negative Trend zu Fast Fashion beschäftigt auch Vinken. Dennoch erkennt sie ein Umdenken auf der Konsumentenebene: »Ich glaube, dass die Leute für die Liebe – früher hat man gesagt, zum Detail –, die Liebe zum Sinnlichen, wieder ein größeres Bewusstsein entwickeln. Und das bedeutet ja Ästhetik eigentlich: Erkenntnis durch Sinnlichkeit. Stoffe umfließen den Körper streichelnd, dieses sinnliche Verhältnis von Haut und Stoff schafft eine ganz eigene Beziehung zum Produkt. Und, dass man die Geschichte dahinter kennt, das hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren erstaunlich stark entwickelt.« Ein Hoffnungsschimmer für die Mode?
»Manche wiederum sagen, es gibt keine Mode mehr, es gibt nur noch Textilkunst.« Barbara Vinken lehnt sich in ihrem Sessel zurück. Nur noch? Ihrer Ansicht verbirgt sich dahinter das Gegenteil: eine Aufwertung der Modeschöpfung und -kreation im ursprünglichen Sinne. „Nach Jahren der günstigen Massenproduktion gibt es eine neue Konzentration auf die Restauration von alten Techniken,“ führt Vinken aus. »Es ist überraschend, wie viel Zeit wieder in das jeweilige Textil investiert wird. Eigentlich ist das immer das Moment der Haute Couture gewesen. Spitzen waren kostbar, wegen der hochspezialisierten Techniken, die dahinterstanden – und weil es so lange dauerte. Und dieses Spezialistentum findet sich jetzt wieder in der Verbindung von Textil und Digitalisierung. Insofern sehe ich Textilkunst eher als eine Fortsetzung dieser Bewegung, deutlich mehr Sorgfalt, mehr Raffinement.«
Digitalisierung: produktionstechnischer Wandel oder symbolischer Umbruch?
Bisher wird Digitalisierung in der Modebranche hauptsächlich als Unterstützungsprozess gesehen, der Geschäftsmodelle und Kaufabwicklungen schneller und effizienter gestaltet. Kaufentscheidungen werden aber insbesondere durch haptische Eindrücke gesteuert. Fühlt sich der Kaschmirpullover nicht so weich an, wie ich erwartet habe, schicke ich ihn zurück, auch wenn mir der Algorithmus ein vermeintliches Lieblingsteil angepriesen hat.
Die Digitalisierung rationalisiert auch in der Mode Arbeitsprozesse umfassend und wird zum Wegfall vieler Arbeitsplätze führen – nicht mehr oder weniger als in anderen Branchen. Automatisierungsprozesse werden viele heute noch von Hand durchgeführte Tätigkeiten übernehmen. Probleme, die es auch während der Industriellen Revolution Anfang des letzten Jahrhunderts gegeben hat. Und warum sollte nicht eine künstliche Intelligenz Kleidungsstücke entwerfen? Kommt also mit der Digitalisierung nun nicht der nächste große Umbruch – auch in der Mode? Nein, meint Vinken. »Die Frage ist doch, ob es sich um symbolische Umbrüche handelt. Nicht jeder Wandel in der Produktionsform führt gleich zu einem symbolischen Umbruch. Im Gegensatz zur Digitalisierung war die französische Revolution ein solcher, symbolischer Umbruch, kein produktionstechnischer. Alle Menschen werden Brüder und das sind sie geblieben, bloß die Frauen nicht. Das ist, was wir bis heute haben, und das ist eine hauptsächlich nach Geschlechtern getrennte Gesellschaft.«
»Das grundlegende Gegensatzpaar ist bis heute Männer- versus Frauenkleidung,« sagt Vinken. »Männer ziehen sich eben nicht an wie Frauen, Frauen sind modisch und Männer zumeist nicht. Und deswegen ist diese entsetzliche Ästhetik der Moderne, wenn man so will, eine, die vom Weibisch-Orientalischen weggeht und – form follows function – eine zutiefst anti-modische Ästhetik propagiert. Aber Mode hat das Potential, diese Ästhetik zu untergraben, sie zu zersetzten und etwas dagegen zu stellen.« Die wichtige Funktion der Mode ist es, die Verhältnisse unserer Gesellschaft – in Falten gelegt und mit Säumen versehen – textil widerzuspiegeln. Daraus speist sich auch ihre politische Dimension. Und begegnet uns so tagtäglich im Spiel mit den vorherrschenden Paradigmen auf den Straßen, in der Bahn, auf Werbungen, in Hochglanzmagazinen.
»Mode bildet die Kategorien unserer Gesellschaft einfach nach, stellt sie dar.« Barbara Vinken überlegt kurz. »Welche Klischees werden aufgeworfen? Wie werden diese umgedreht? Wie wird der Körper konstruiert? Welche Stoffe fließen mit ein? Das Denken über Mode, und nicht nur das, hat sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren enorm verändert. Mode ist von allen Designsdisziplinen für mich die ästhetisch und kulturell Interessanteste, weil sie am lebenden Körper «
Begierde und Begehren: Mode in München
Und wie sieht es nun konkret mit München aus, wollen wir wissen? »Ich finde, es gibt hier bereits ein paar sehr interessante Designer. München hat genügend Geld, es fehlt noch etwas das letzte intellektuelle Raffinement – aber ich bin da eigentlich ganz optimistisch,« lacht Vinken. »Ich würde sagen, die Intelligenz und die Lust an der Pointe, am Untergraben, sind schon da. Deswegen gibt es zum Beispiel ja auch den Münchner Modepreis, den die Landeshauptstadt seit 2016 alle zwei Jahre während der Designwoche MCBW als Nachwuchspreis vergibt.« Zu jeder kulturellen Produktion, zu allem, was Mode ist und sein soll, gehört unabdingbar auch eine Form der Reflexion. Sonst müssten wir uns keine Gedanken über die Funktionskleidung machen und welche Rolle sie im Universum der Modeschöpfung wohl spielen mag. Oder uns im Umkehrschluss fragen, was uns das freiwillige, fast schon begierige Tragen raschelnder Synthetikstoffe mit aufgesetzten Reflektoren über uns selbst eigentlich verrät. »Genau an diesem Punkt müssen Modejournalismus, müssen Designpreise und Modeschulen ansetzen,« so Vinken weiter, »um das kritische Hinterfragen in Gang zu bringen, um die Urteilskraft zu schärfen.«
Barbara Vinken war selbst in der Jury des bisher zweimal verliehenen Münchner Modepreises und weiß, wovon sie spricht: »Viel zu häufig wird in der Mode geglaubt, dass für die Produktion nur Geld wichtig ist: ganz schlecht! Denn dann wird es stumpfsinnig und vor allem wird es auch steril. Es reicht nicht, zu sagen, I like it. Or not! Man muss fähig sein, Kriterien zu entwickeln.« Wir sollten lernen, »uns von den vermeintlichen Diktaten des Markts, der Nachfrage, den Ängsten, besonders geschürt durch den digitalen Wandel, freizumachen.« Mode als ästhetische Disziplin soll eben nicht den Erwartungshorizont erfüllen, sondern muss diesen überschreiten. Regeln müssen gelernt werden, um diese dann zu brechen. »Mode will immer das Neue und das Neue ist das Unerwartete. Und ja, das muss etwas sein, was der Markt nicht will,« schließt Barbara Vinken unser Gespräch. Du willst kein Begehren erfüllen, du willst Begehren schaffen.«